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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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befanden, umgeben oder zur Hälfte umgeben von 106200000 Quadratkilometern Salzwasser, just in dem Moment, als die Frau vom Oberdeck der Erste-Klasse-Passagiere sich eine Zigarette anzündete, den Blick auf die Weite des Meeres gerichtet, das sie nicht sehen, nur hören konnte, fand das Rätsel seine wundersame Lösung, und genau da, an diesem Punkt der Geschichte, sagte der Schwabe, verstummte die einstmals reiche und mächtige und zumindest auf ihre Art intelligente friesische Frau, und eine religiöse oder, schlimmer noch, abergläubische Stille senkte sich über das triste deutsche Nachkriegslokal, in dem es den Teilnehmern der Tischgesellschaft immer unbehaglicher zumute wurde und sie hastig ihre restlichen Würstchen und Kartoffeln zusammenpickten und die letzten Tropfen Bier aus ihren Gläsern schlürften, als fürchteten sie, die Frau könne im nächsten Moment wie eine Erinnye zu heulen anfangen, und glaubten sich gut beraten, darauf gefasst zu sein, hinaus und mit vollem Bauch der Kälte trotzend nach Hause zu laufen.
    Und dann sprach die Frau und sagte:
    »Ist einer hier, der das Rätsel lösen kann?«
    Sie sagte das, ohne einen der Anwesenden direkt anzusehen oder anzusprechen.
    »Kennt einer die Lösung des Rätsels? Hat es einer verstanden? Gibt es in diesem Dorf zufällig jemanden, der mir die Lösung des Rätsels sagen kann, meinetwegen auch ins Ohr?«
    Und während sie das sagte, starrte sie auf ihre Portion Wurst und Kartoffeln, die sie kaum angerührt hatte. Daraufhin sagte Archimboldi, der während der Erzählung der Frau weitergegessen und keinmal aufgeschaut hatte, in gleichmütigem Ton, es sei das ein Akt der Gastfreundschaft gewesen, der Gutsbesitzer und sein Sohn hätten im Vertrauen darauf, dass der Ehemann der Frau das erste Rennen verlieren werde, ein manipuliertes zweites und drittes Rennen angesetzt, bei dem der ehemalige Kavalleriehauptmann gewinnen sollte. Da schaute ihm die Frau in die Augen, lachte und fragte, warum ihr Mann das erste Rennen gewonnen habe.
    »Warum? Warum?« sagte die Frau.
    »Weil der Sohn des Gutsbesitzers«, sagte Archimboldi, »der mit Sicherheit besser ritt und eine bessere Montur besaß als Ihr Mann, im letzten Moment das empfand, was wir Mitleid nennen. Das heißt, angespornt durch das Fest, das sein Vater und er aus dem Ärmel geschüttelt hatten, wählte er die Verschwendung. Alles sollte verschwendet werden, so auch sein Sieg im Reiten, und irgendwie verstanden alle, dass es so sein musste, einschließlich der Frau, die im Park nach Ihnen gesucht hat, nur nicht der Junge.«
    »Das war alles?«, fragte die Frau.
    »Für den Jungen nicht. Ich glaube, wenn Sie länger mit ihm zusammengeblieben wären, hätte er Sie getötet, was auf seine Weise auch ein Akt der Verschwendung gewesen wäre, nur sicher nicht in dem Sinne, der dem Gutsbesitzer und seinem Sohn vorschwebte.«
    Daraufhin erhob sich die Frau, bedankte sich für den Abend und ging.
    »Kurze Zeit später«, sagte der Schwabe, »begleitete ich Archimboldi zu seiner Pension. Als ich ihn am folgenden Morgen abholen und zum Zug bringen wollte, war er nicht mehr da.«
    Sagenhafter Schwabe, sagte Espinoza. Überlasst ihn mir, sagte Pelletier. Überfordert ihn möglichst nicht, lasst euch euer Interesse möglichst nicht zu sehr anmerken, sagte Morini. Man muss ihn mit Samthandschuhen anfassen, sagte Norton. Also liebevoll behandeln.
    Doch alles, was der Schwabe zu sagen wusste, hatte er bereits gesagt, und obwohl sie ihn hätschelten und zum Essen ins beste Restaurant von Amsterdam einluden und ihm um den Bart gingen und mit ihm über Gastfreundschaft und Verschwendung sprachen und über das harte Los von Kulturbeauftragten in gottverlassenen Provinzstädtchen, war es unmöglich, ihm irgendetwas Interessantes zu entlocken, obwohl die vier darauf achteten, sich jedes einzelne Wort genau einzuprägen, als hätten sie ihren Moses gefunden, was dem Schwaben nicht entging und seine Schüchternheit eher auf die Spitze trieb (die Espinoza und Pelletier für einen ehemaligen Kulturbeauftragten aus der Provinz so ungewöhnlich fanden, dass sie glaubten, der Schwabe sei im Grunde ein Betrüger), auch seine Zurückhaltung, eine Diskretion, die an die schimärische Omerta eines alten Nazis erinnerte, der Lunte roch.
    Fünfzehn Tage später nahmen sich Espinoza und Pelletier ein paar Tage frei, um nach Hamburg zu fahren und Archimboldis Verlag einen Besuch abzustatten. Empfangen wurden sie vom Verlagsleiter, einem gar

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