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nicht so großen, sondern vor allem hageren Mann Anfang sechzig, der Schnell hieß, obwohl er eigentlich eher langsam war. Er hatte glattes, dunkelbraunes Haar, an den Schläfen graumeliert, was eine gewisse Jugendlichkeit seiner Erscheinung betonte. Als er sich erhob, um ihnen die Hand zu schütteln, dachten Espinoza und Pelletier beide, sie hätten es mit einem Homosexuellen zu tun.
»Diese Schwuchtel hat allergrößte Ähnlichkeit mit einem Aal«, sagte Espinoza später, als sie durch Hamburg liefen.
Pelletier rügte den ausgesprochen schwulenfeindlichen Tenor seiner Bemerkung, obwohl er im Grunde derselben Ansicht war, Schnell hatte etwas von einem Aal, einem Fisch, der in dunklen, schlammigen Gewässern gründelt.
Natürlich konnte er ihnen kaum etwas sagen, was sie nicht schon wussten. Schnell hatte Archimboldi nie gesehen, die von Mal zu Mal größeren Summen, die seine Bücher und Übersetzungen einbrachten, überwies er auf ein Schweizer Nummernkonto. Alle zwei Jahre erhielten sie Anweisungen von ihm in Form von Briefen, die gewöhnlich von Italien aus abgeschickt wurden, obwohl in den Verlagsarchiven auch Briefe mit griechischen, spanischen und marokkanischen Briefmarken lagerten, Briefe, die übrigens an die Eigentümerin des Verlages, Frau Bubis, adressiert waren und die er selbstverständlich nicht gelesen hatte.
»Im Verlag gibt es nur noch zwei Personen, außer Frau Bubis natürlich, die Benno von Archimboldi persönlich kennengelernt haben«, sagte Schnell. »Die Leiterin der Pressestelle und die Lektorin. Als ich in den Verlag kam, war Archimboldi schon seit langem spurlos verschwunden.«
Pelletier und Espinoza baten, mit beiden Frauen sprechen zu dürfen. Das Büro der Pressechefin ertrank in Fotos, nicht unbedingt nur von Verlagsautoren, und in Pflanzen, und über den verschwundenen Schriftsteller wusste sie nicht mehr zu sagen, als dass er ein netter Kerl war.
»Ein großer, ein sehr großer Mann«, sagte sie. »Wenn er neben dem verstorbenen Herrn Bubis stand, sahen sie aus wie ein ti. Oder ein li.«
Espinoza und Pelletier verstanden nicht, was sie meinte, und die Pressechefin malte auf ein Stück Papier den Buchstaben I und daneben den Buchstaben i. »Oder vielleicht wäre ein le noch treffender. So.«
Und wieder malte sie etwas auf das Blatt Papier:
le
»Das l ist Archimboldi, das e ist der verstorbene Herr Bubis.«
Dann lachte die Pressechefin, ließ sich in ihren Drehstuhl zurückfallen und sah die beiden eine Weile lang schweigend an. Anschließend sprachen sie mit der Lektorin. Sie war ungefähr so alt wie die Pressechefin, besaß aber nicht deren heiteres Gemüt.
Sie sagte, sie habe Archimboldi tatsächlich vor vielen Jahren kennengelernt, könne sich aber weder an sein Gesicht erinnern noch an die Art seines Auftretens, genauso wenig an eine Anekdote, die zu erzählen sich lohnen würde. Auch an seinen letzten Besuch im Verlag erinnerte sie sich nicht. Sie riet ihnen, sich an Frau Bubis zu wenden, und vertiefte sich dann wortlos in eine Fahnenkorrektur, beantwortete Fragen von Korrektoren, telefonierte mit Leuten, die, wie Espinoza und Pelletier mitfühlend dachten, möglicherweise Übersetzer waren. Unempfindlich gegen Entmutigungen, schauten sie, bevor sie das Haus verließen, noch einmal bei Schnell vorbei und berichteten ihm von geplanten Konferenzen und Kolloquien zu Archimboldi. In seiner zuvorkommenden und herzlichen Art versicherte ihnen Schnell, sie dürften auf ihn zählen, wenn er ihnen behilflich sein könne.
Da sie nichts anderes zu tun hatten, als auf den Abflug der Maschinen zu warten, die sie nach Paris respektive Madrid zurückbringen würden, unternahmen Pelletier und Espinoza einen Spaziergang durch Hamburg. Der Spaziergang führte sie unweigerlich ins Viertel der Prostituierten und Peepshows, was beide so melancholisch stimmte, dass sie einander von verflossenen Lieben und Enttäuschungen zu erzählen begannen. Selbstverständlich ohne Namen und Details zu nennen, sie ergingen sich, könnte man sagen, in abstrakten Äußerungen, auf alle Fälle aber, und unerachtet des scheinbar kühlen Leidensberichts, bewirkten Gespräch und Spaziergang, dass sie immer tiefer in Melancholie versanken, bis sie endlich nach zwei Stunden das Gefühl hatten, ersticken zu müssen.
Schweigend kehrten sie mit dem Taxi ins Hotel zurück.
Dort erwartete sie eine Überraschung. An der Rezeption fanden sie eine an beide adressierte Nachricht von Schnell vor, in der er ihnen
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