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mitteilte, dass er sich nach ihrer morgendlichen Unterhaltung entschlossen habe, mit Frau Bubis zu sprechen, und sie bereit sei, sie zu empfangen. Tags darauf standen Espinoza und Pelletier vor der Wohnung der Verlegerin im dritten Stock eines Altbaus in einem Hamburger Nobelviertel. Während sie warteten, betrachteten sie die an einer Wand hängenden Fotografien. An einer anderen Wand hingen je ein Ölgemälde von Soutine und Kandinsky sowie mehrere Zeichnungen von Grosz, Kokoschka und Ensor. Espinoza und Pelletier jedoch zeigten mehr Interesse an den Fotografien, auf denen immer jemand zu sehen war, den sie bewunderten oder nicht ausstehen konnten, aber in jedem Fall gelesen hatten: Thomas Mann mit Bubis, Heinrich Mann mit Bubis, Klaus Mann mit Bubis, Alfred Döblin mit Bubis, Hermann Hesse mit Bubis, Walter Benjamin mit Bubis, Anna Seghers mit Bubis, Stefan Zweig mit Bubis, Bertolt Brecht mit Bubis, Feuchtwanger mit Bubis, Johannes Becher mit Bubis, Arnold Zweig mit Bubis, Ricarda Huch mit Bubis, Oskar Maria Graf mit Bubis, Körper und Gesichter und undeutliche Hintergründe in perfekter Rahmung. Mit der Unschuld der Toten, denen die Blicke der Lebenden nichts mehr bedeuten, schauten die Porträtierten auf die kaum verhohlene Begeisterung der Universitätsprofessoren. Als Frau Bubis eintrat, hatten die beiden die Köpfe zusammengesteckt und versuchten herauszufinden, ob der Mann neben Bubis Fallada war oder nicht.
Sehr richtig, das war Fallada, sagte Frau Bubis. Als Pelletier und Espinoza sich umdrehten, standen sie einer älteren Frau in weißer Bluse und schwarzem Rock gegenüber, deren Figur, wie Pelletier später einmal bekannte, stark an Marlene Dietrich erinnerte, eine Frau, die sich trotz ihres Alters ihre Entschlossenheit bewahrt hatte, eine, die sich nicht an den Rand des Abgrunds klammerte, sondern voller Neugier und Eleganz in den Abgrund stürzte. Eine Frau, die mit übereinandergeschlagenen Beinen in den Abgrund stürzte.
»Mein Mann kannte alle deutschen Schriftsteller, und die deutschen Schriftsteller liebten und respektierten meinen Mann, obwohl einige von ihnen später scheußliche, zum Teil sogar falsche Dinge über ihn verbreiteten«, sagte Frau Bubis mit einem Lächeln.
Sie sprachen über Archimboldi, und Frau Bubis ließ Tee und Gebäck bringen, obwohl sie selbst sich einen Wodka genehmigte, worüber Espinoza und Pelletier sich wunderten, nicht weil sie schon so früh zu trinken begann, sondern weil sie ihnen kein Glas angeboten hatte, was sie freilich dankend abgelehnt hätten.
»Der Einzige im Verlag, der Archimboldis Werk in- und auswendig kannte«, sagte Frau Bubis, »war mein Mann, der alle seine Bücher veröffentlicht hat.«
Sie frage sich aber (und frage auch die beiden), inwieweit einer das Werk eines anderen kennen könne.
»Ich, zum Beispiel, bin eine glühende Verehrerin von Grosz«, sagte sie und wies auf die Grosz-Zeichnungen an der Wand, »aber wie gut kenne ich sein Werk wirklich? Seine Geschichten bringen mich zum Lachen, manchmal bilde ich mir ein, Grosz habe sie nur gemalt, damit ich lache, manchmal wird das Lachen zu einem Gelächter und das Gelächter zu einem Lachanfall. Ich habe aber einmal einen Kunsthistoriker gekannt, der Grosz mochte, natürlich, und den es trotzdem furchtbar deprimierte, wenn er eine Ausstellung seiner Werke besuchte oder sich beruflich mit einem seiner Gemälde oder einer seiner Zeichnungen beschäftigen musste. Und diese Depressionen oder Phasen der Traurigkeit dauerten in der Regel Wochen. Dieser Kunsthistoriker war ein Freund von mir, obwohl wir das Thema Grosz nie berührt haben. Einmal jedoch gestand ich ihm, was Grosz bei mir auslöse. Zuerst wollte er es nicht glauben. Dann begann er den Kopf zu schütteln. Dann schaute er mich von oben bis unten an, als kennte er mich nicht mehr. Ich dachte, er habe den Verstand verloren. Er kündigte mir für immer die Freundschaft. Vor kurzem habe ich erfahren, dass er noch immer herumerzählt, ich hätte keine Ahnung von Grosz und mein Kunstgeschmack sei dem einer Kuh vergleichbar. Gut, meinetwegen kann er sagen, was er will. Ich lache bei Grosz, ihn macht er depressiv, aber wer kennt Grosz wirklich?«
»Nehmen wir an«, sagte Frau Bubis, »es würde in diesem Moment läuten, und mein alter Freund der Kunsthistoriker stände vor der Tür. Er setzt sich hier neben mich aufs Sofa, und einer von Ihnen zieht eine unsignierte Zeichnung aus der Tasche und versichert, es handele sich um einen Grosz und
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