Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
Vom Netzwerk:
er wolle ihn verkaufen. Ich schaue mir die Zeichnung an, muss lächeln, zücke mein Scheckheft und kaufe das Bild. Der Kunsthistoriker betrachtet die Zeichnung und ist nicht deprimiert; er versucht, mir die Sache auszureden. Für ihn ist es kein Grosz. Für mich ist es ein Grosz. Wer von uns hat recht?«
    »Oder stellen wir uns die Geschichte anders vor. Sie«, sagte Frau Bubis und zeigte auf Espinoza, »ziehen eine unsignierte Zeichnung aus der Tasche und behaupten, sie sei von Grosz, und wollen sie verkaufen. Ich lache nicht, ich betrachte sie kühl, begutachte den Strich, die Handschrift, die Satire, aber nichts an der Zeichnung amüsiert mich. Auch der Kunsthistoriker untersucht sie genau, fühlt eine bekannte Traurigkeit in sich aufsteigen und macht ein Angebot, das seine Ersparnisse übersteigt und ihm, wenn Sie es annähmen, lange melancholische Abende bereiten würde. Ich versuche, ihn davon abzubringen; sage, die Zeichnung komme mir verdächtig vor, weil sie mich nicht zum Lachen reize. Der Kunsthistoriker erwidert, es sei an der Zeit, dass ich das Werk von Grosz mit erwachsenen Augen betrachte, und beglückwünscht mich. Wer von beiden hat recht?«
    Anschließend sprachen sie wieder über Archimboldi, und Frau Bubis zeigte ihnen eine hochinteressante Rezension, die nach dem Erscheinen von Lüdicke, Archimboldis erstem Roman, in einer Berliner Zeitung erschienen war. Der Rezensent, ein gewisser Schleiermacher, versuchte die Persönlichkeit des Autors in wenigen Worten zu umreißen:
    Intelligenz: durchschnittlich
    Charakter: epileptisch
    Bildung: unsystematisch
    Einbildungskraft: chaotisch
    Prosodie: chaotisch
    Sprachgebrauch: chaotisch
    Durchschnittliche Intelligenz und unsystematische Bildung, das war leicht zu verstehen. Was aber meinte er mit epileptischem Charakter? Dass Archimboldi an Epilepsie litt, dass er nicht ganz richtig im Kopf war, dass er mysteriöse Anfalle hatte, dass er ein zwanghafter Dostojewski-Leser war? Es gab in dem Text keine physische Beschreibung des Schriftstellers.
    »Wir haben nie herausgefunden, wer dieser Schleiermacher war«, sagte Frau Bubis, »mein verstorbener Mann und ich haben sogar manchmal im Scherz behauptet, Archimboldi selbst habe die Kritik geschrieben. Aber er wusste so gut wie ich, dass das nicht der Fall war.«
    Gegen Mittag, als es bereits ratsam schien, zu gehen, trauten sich Pelletier und Espinoza, die einzige Frage zu stellen, die ihnen wichtig war: Konnte sie ihnen helfen, mit Archimboldi in Kontakt zu treten? Die Augen von Frau Bubis leuchteten auf. Als stünde sie an einem Feuer, wie Pelletier später zu Liz Norton sagte. Aber nicht an einem auflodernden, sondern an einem, das wochenlang brannte und bald verlöschen würde. Die abschlägige Antwort drückte sich in einer leichten Kopfbewegung aus, die Pelletier und Espinoza augenblicklich die Nutzlosigkeit ihrer Bitte einsehen ließ.
    Dennoch blieben sie noch ein Weilchen. Aus irgendeinem Teil des Hauses drang gedämpft ein italienisches Volkslied an ihr Ohr. Espinoza fragte, ob sie Archimboldi zu Lebzeiten ihres Mannes einmal persönlich gesehen habe. Frau Bubis bejahte und trällerte leise den Refrain des Liedes. Ihr Italienisch war nach Ansicht bei der Freunde sehr gut.
    »Wie ist Archimboldi?«, fragte Espinoza.
    »Sehr groß«, sagte Frau Bubis, »sehr groß, ein wirklich hochgewachsener Mann. Wäre er in der heutigen Zeit geboren worden, er würde wahrscheinlich Basketball spielen.«
    Nach der Art zu schließen, wie sie das sagte, hätte Archimboldi aber genauso gut ein Zwerg sein können. Im Taxi, das sie zurück ins Hotel brachte, dachten die beiden Freunde an Grosz und an das glockenhelle, grausame Lachen von Frau Bubis und an den Eindruck, den die Wohnung auf sie gemacht hatte, in der es jede Menge Fotos gab, nur keins von dem einzigen Schriftsteller, der sie interessierte. Und obwohl keiner von beiden es zugeben wollte, schwante ihnen doch, dass die kurze Erleuchtung, die sie im Rotlichtviertel gehabt hatten, wichtiger war als die Enthüllung - welche es auch gewesen sein mochte -, die sich in der Wohnung von Frau Bubis angedeutet hatte.
    Mit einem Wort und unverblümt: Während ihres Spaziergangs durch Sankt Pauli war Pelletier und Espinoza klargeworden, dass die Suche nach Archimboldi ihrer beider Leben niemals würde ausfüllen können. Sie konnten ihn lesen, ihn unter die Lupe nehmen, über ihn schreiben, aber sie konnten sich nicht mit ihm kaputtlachen oder mit ihm Trübsal blasen, teils

Weitere Kostenlose Bücher