2666
des Hofs wie eine Art Krater oder Latrine aufragte. Der letzte kommunistische Philosoph trug einen dunklen Anzug, eine himmelblaue Krawatte und sein Haar war ergraut. Obwohl es den Anschein hatte, als könne er in jedem Moment zusammenbrechen, hielt er sich wundersamerweise aufrecht. Der Gesang war nicht immer derselbe, manchmal streute er englische oder französische Worte ein, die zu anderen Liedern, Popmusik- oder Tangoballaden, gehörten, Melodien, die den Rausch oder die Liebe feierten. Doch waren diese Einschaltungen kurz und sporadisch, und schon bald nahm er den Faden des ursprünglichen russischen Liedes wieder auf, dessen Worte Amalfitano nicht verstand (obwohl man in Träumen wie in den Evangelien gewöhnlich über die Gabe des Zungenredens verfügt), deren tieftraurigen Sinn er aber ahnte: Die Erzählung oder die Klagen eines Wolgaschiffers, der die ganze Nacht am Ruder steht und sich beim Mond über das bittere Los der Menschen beklagt, die geboren werden und sterben müssen.
Als der letzte kommunistische Philosoph endlich den Krater oder die Latrine erreichte, stellte Amalfitano verblüfft fest, dass es sich um niemand anderen als Boris Jelzin handelte. Das ist der letzte Philosoph des Kommunismus? Welche Art Wahnsinn steht mir bevor, wenn ich imstande bin, solche Ungereimtheiten zu träumen? Der Traum jedoch war mit Amalfitanos geistigem Zustand im Reinen. Es war kein Alptraum. Und er verschaffte ihm außerdem eine Art federleichtes Wohlbefinden. Dann sah Boris Jelzin Amalfitano neugierig an, als wäre Amalfitano in seinen Traum eingedrungen und nicht er in den Traum von Amalfitano. Und sagte: Hör genau zu, was ich sage, Genosse. Ich will dir erklären, was das dritte Bein des menschlichen Tischs ist. Ich will es dir erklären. Und dann lass mich in Ruhe. Das Leben ist Nachfrage und Angebot oder Angebot und Nachfrage, darauf beschränkt sich alles, aber so kann man nicht leben. Es braucht ein drittes Standbein, damit der Tisch nicht auf den Müllhaufen der Geschichte kippt, der seinerseits permanent auf den Müllhaufen der Leere kippt. Also schreib auf. Das ist die Gleichung: Angebot + Nachfrage + Magie. Und was ist Magie? Magie ist Epik und Sex und dionysischer Nebel und Spie!. Und dann setzte Jelzin sich auf den Krater oder die Latrine und zeigte Amalfitano die fehlenden Finger an seiner Hand und erzählte von seiner Kindheit und vom Ural und von Sibirien und von einem weißen Tiger, der durch die endlosen verschneiten Räume streifte. Und dann zog er einen Flachmann mit Wodka aus der Sakkotasche und sagte:
»Ich glaube, es ist Zeit für ein Schlückchen.«
Und nachdem er getrunken und dem armen chilenischen Professor einen maliziösen Jägerblick zugeworfen hatte, nahm er mit womöglich noch mehr Ungestüm seinen Gesang wieder auf. Dann verschwand er, verschluckt von dem rot gemaserten Krater oder der rot gemaserten Latrine, und Amalfitano stand allein da und wagte nicht, in das Loch zu schauen, weshalb ihm nichts anderes übrigblieb, als aufzuwachen.
Der Teil von Fate
Wann hatte alles angefangen?, dachte er. Wann genau bin ich darin versunken? Ein dunkler, vage vertrauter aztekischer See. Der Alptraum. Wie da wieder rauskommen? Wie die Situation in den Griff kriegen? Und noch mehr Fragen: Wollte er überhaupt raus? Wollte er überhaupt alles hinter sich lassen? Außerdem dachte er: Der Schmerz ist nicht mehr wichtig. Und: Vielleicht hat alles mit dem Tod meiner Mutter angefangen. Und: Der Schmerz ist unwichtig, wenn er nur nicht zunimmt und unerträglich wird. Und: Scheiße, es tut weh, Scheiße, es tut weh. Unwichtig, unwichtig. Umgeben von Gespenstern.
Quincy Williams war dreißig, als seine Mutter starb. Eine Nachbarin rief ihn bei der Arbeit an.
»Junge«, sagte sie, »Edna ist gestorben.«
Er fragte, wann. Er hörte das Schluchzen der Frau am anderen Ende der Leitung und noch andere Stimmen, vermutlich ebenfalls Frauen. Er fragte, wie. Niemand antwortete, und er legte auf. Er wählte die Nummer seiner Mutter.
»Wer ist da?«, hörte er eine gereizte Frauenstimme fragen.
Er dachte: Meine Mutter ist in der Hölle. Er legte wieder auf. Er rief noch einmal an. Eine junge Frau nahm ab.
»Ich bin Quincy, der Sohn von Edna Miller«, sagte er.
Die Frau tat einen Ausruf, den er nicht verstand, und kurz darauf kam eine andere Frau an den Apparat. Er verlangte die Nachbarin zu sprechen. Sie liegt im Bett, sagte jemand, sie hatte gerade einen Herzanfall, Quincy, wir warten auf einen
Weitere Kostenlose Bücher