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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Geheimdienstobersten oder auch eines Generals mit intellektuellem Größenwahn, was im Fall von Chile nicht ungewöhnlich war, ungewöhnlich wäre eher das Gegenteil gewesen, in Chile benahmen sich die Militärs wie Schriftsteller, und die Schriftsteller, um sich nicht lumpen zu lassen, wie Militärs; die Politiker (aller Richtungen) wiederum benahmen sich wie Schriftsteller und wie Militärs, die Diplomaten wie schwachsinnige Cherubim und die Ärzte und Anwälte wie Straßenräuber, und das hätte er, der gefeit war gegen Entmutigung, noch ewig so fortsetzen können. Nahm er aber den Faden des Buches wieder auf, hielt er es für durchaus möglich, dass Kilapán es vielleicht gar nicht geschrieben hatte. Und wenn Kilapán das Buch nicht geschrieben hatte, war es auch möglich, dass Kilapán nicht existierte, dass es also keinen Präsidenten der Indigenen Konföderation Chiles gab, schon weil diese Konföderation vielleicht gar nicht existierte, und dass es auch keinen Sekretär der Araukanischen Akademie der Sprache gab, schon weil es diese Akademie vielleicht nie gegeben hat. Alles falsch. Alles Chimäre. Kilapán, dachte Amalfitano und bewegte den Kopf im gleichen (fast unmerklichen) Rhythmus, in dem auf der anderen Seite der Scheibe Diestes Buch sich bewegte, mochte ebenso gut ein nom de plume Pinochets sein, jenes Pinochets der langen schlaflosen Nächte oder fruchtbaren Morgenstunden, wenn er um sechs oder halb sechs aufstand und sich, nachdem er geduscht und ein wenig Frühsport getrieben hatte, in seiner Bibliothek einschloss, um die internationalen Beleidigungen zu überfliegen und über den schlechten Ruf zu sinnieren, den Chile im Ausland genoss. Aber man durfte sich keine zu großen Hoffnungen machen. Kilapáns Prosa konnte zwar von Pinochet stammen. Genauso gut aber auch von Aylwin oder Lagos. Kilapáns Prosa konnte die von Frei sein (was etwas heißen will) oder von irgendeinem Neofaschisten. In Kilapáns Prosa fanden nicht nur alle Stile Chiles Platz, sondern auch alle politischen Richtungen, von den Konservativen bis hin zu den Kommunisten, von den neuen Liberalen bis hin zu den alten Überlebenden des MIR. Kilapán war der Luxus des in Chile gesprochenen und geschriebenen Spanisch, in seinen Phrasen spiegelte sich nicht nur die schwartige Nase von Abt Molina, sondern spiegelten sich auch die Massaker des Patricio Lynch, die ewigen Schiffbrüche der Esmeralda, die Wüste von Atacama und die weidenden Rinder, die Guggenheim-Stipendien, die der Wirtschaftspolitik der Militärs applaudierenden sozialistischen Politiker, die Straßenecken, an denen gebratene sopaipillas verkauft wurden oder mote con huesillos, das Phantom der Berliner Mauer, das auf den unbeweglichen roten Fahnen wehte, die häusliche Gewalt, die barmherzigen Huren, die billigen Wohnungen, das, was man in Chile Ressentiment und was Amalfitano Irrsinn nannte.
    Was er aber in Wirklichkeit suchte, war ein Name. Der Name der telepathischen Mutter von O'Higgins. Laut Kilapán: Kinturay Treulen. Laut offizieller Geschichtsschreibung: Doña Isabel Riquelme. An diesem Punkt angelangt, beschloss Amalfitano, nicht länger Diestes Buch zu betrachten, das (fast unmerklich) in der Dunkelheit schaukelte, sondern sich hinzusetzen und über den Namen seiner eigenen Mutter nachzudenken: Doña Eugenia Riquelme (in Wirklichkeit Doña Filia María Eugenia Riquelme Graña). Ein jäher Schreck durchfuhr ihn. Für fünf Sekunden standen ihm die Haare zu Berge. Er wollte lachen, konnte aber nicht.
    Ich verstehe Sie, sagte Marco Antonio Guerra. Oder zumindest glaube ich, dass ich Sie verstehe. Sie sind wie ich, und ich bin wie Sie. Wir fühlen uns unwohl. Wir leben in einer Umgebung, die uns erstickt. Wir tun so, als würde nichts geschehen, aber es geschieht etwas. Und was geschieht? Wir ersticken, verdammt! Sie verschaffen sich Luft, so gut Sie können. Ich teile Prügel aus oder stecke Prügel ein. Aber nicht irgendwelche Prügel: Apokalyptische Keile. Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten. Ich ziehe manchmal nachts los und gehe in Bars, von denen Sie sich keine Vorstellung machen. Da spiele ich die Tunte. Nicht irgendeine Tunte: Eine neunmalkluge, hochnäsige, ironische Tunte, eine Perle im säuischsten Saustall von Sonora. Natürlich bin ich so wenig Tunte wie nur irgendwas, das schwöre ich Ihnen beim Grab meiner toten Mutter. Trotzdem tue ich so, als ob ich's wäre. Ein eingebildeter Tuntenarsch mit fett Kohle, der alle von oben herab behandelt. Und dann

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