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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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geschieht, was geschehen muss. Zwei oder drei Aasgeier fordern mich auf, mit ihnen rauszugehen. Und dann beginnt die Prügel. Ich weiß es, und es ist mir egal. Mal sind es die andern, die ordentlich was abkriegen, vor allem, wenn ich meine Knarre dabeihabe. Mal bin ich es. Mir egal. Ich brauche diese erbärmlichen Auftritte. Meine Freunde, die wenigen Freunde, die ich habe, Typen in meinem Alter, aber schon mit der Uni fertig, sagen mir manchmal, ich solle aufpassen, ich sei eine Zeitbombe, ich sei ein Masochist. Einer, den ich sehr mochte, sagte, solche Eskapaden könne sich nur einer leisten wie ich, weil ich einen Vater habe, der mich aus jedem Schlamassel wieder herausholt. Purer Zufall, sonst nichts. Ich habe Papa nie um irgendetwas gebeten. In Wirklichkeit habe ich keine Freunde, ist mir lieber so. Zumindest möchte ich lieber keine mexikanischen Freunde haben. Wir Mexikaner sind verkommen, wussten Sie das?
    Alle. Dem entgeht hier keiner. Angefangen beim Präsidenten der Republik bis hin zu diesem Clown, Subcomandante Marcos. Wenn ich Subcomandante Marcos wäre, wissen Sie, was ich tun würde? Ich würde mit meinem ganzen Heer irgendeine Stadt in Chiapas angreifen, sie muss nur eine starke militärische Besatzung haben. Dort würde ich meine armen Indianer opfern. Danach würde ich wahrscheinlich in Miami ein neues Leben anfangen. Welche Musik mögen Sie? fragte Amalfitano. Klassische Musik, Professor, Vivaldi, Cimarosa, Bach. Und was für Bücher lesen Sie so? Früher habe ich alles gelesen, Professor, massenweise, heute lese ich nur noch Lyrik. Nur die Lyrik ist nicht verseucht, nur die Lyrik ist frei von Kommerz. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, Professor. Nur die Lyrik, und auch nicht jede, um das klar zu sagen, ist gesunde Nahrung und keine Scheiße.
    Die Stimme des jungen Guerra stieg zersprengt in glatte, harmlose Splitter aus einer Schlingpflanze empor und sagte: Einer meiner Lieblingsdichter ist Georg Trakl.
    Der Name Trakl ließ Amalfitano, während er gleichzeitig völlig automatisch eine Vorlesung hielt, an eine Apotheke in der Nähe seiner Wohnung in Barcelona denken, zu der er gewöhnlich ging, wenn er Medizin für Rosa brauchte. Einer der Angestellten war ein blutjunger, spindeldürrer Apotheker mit großer Brille, der nachts, wenn die Apotheke Notdienst hatte, immer Bücher las. Eines Nachts fragte Amalfitano, nur um etwas zu sagen, solange der Junge in den Regalen suchte, welche Sorte Bücher ihm gefiele und welches Buch er gerade lese. Der Apotheker antwortete, ohne sich umzudrehen, ihm gefielen Bücher wie Die Verwandlung, Bartleby, Ein schlichtes Herz, Eine Weihnachtsgeschichte. Und sagte dann, gerade lese er Frühstück bei Tiffany von Capote. Abgesehen davon, dass das schlichte Herz und die Weihnachtsgeschichte, der letztgenannte Titel deutete es an, Erzählungen waren und keine Bücher, fand er den Geschmack des belesenen jungen Apothekers aufschlussreich, der in einem anderen Leben vielleicht Trakl gewesen war oder dem es vielleicht noch in diesem beschieden sein könnte, so verzweifelte Gedichte zu schreiben wie sein ferner österreichischer Kollege, und der klar und ohne Diskussion das kleinere dem größeren Werk vorzog. Er entschied sich für Die Verwandlung statt Der Prozess, für Bartleby statt Moby Dick, für Ein schlichtes Herz statt Bouvard et Pécuchet, für Eine Weihnachtsgeschichte statt Eine Geschichte aus zwei Städten oder Pickwickier. Trauriges Paradox, dachte Amalfitano. Nicht einmal die belesenen Apotheker wagen sich mehr an die großen, die unvollkommenen, die überschäumenden Werke, die Schneisen ins Unbekannte schlagen. Sie geben den perfekten Fingerübungen der großen Meister den Vorzug. Anders gesagt: Sie wollen die großen Meister bei eleganten Fechtübungen beobachten, aber nichts wissen von den wahren Kämpfen, in denen die großen Meister gegen jenes Etwas kämpfen, das uns allen Angst einjagt, jenes Etwas, das gefährlich die Hörner senkt, und es gibt Blutvergießen, tödliche Wunden und Gestank.
    In dieser Nacht träumte Amalfitano, während in den Tiefen seines Gehirns noch die hochtrabenden Worte des jungen Guerra widerhallten, er sähe in einem Hof aus rosa Marmor den letzten kommunistischen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts auftauchen. Er sprach russisch. Oder besser gesagt: Er sang ein Lied auf Russisch, während sein massiger Körper sich torkelnd auf eine Ansammlung leuchtend rot gemaserter Majoliken zubewegte, die vom ebenen Boden

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