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war schätzungsweise ein Meter siebzig und rund achtzig Kilo schwer«, sagte der Chef.
»Dann verwechsele ich ihn mit jemand anders«, sagte Fate, »mit einem großen Typen, der manchmal mit Remy Burton essen ging und den ich ab und zu im Fahrstuhl getroffen habe.«
»Nein«, sagte der Chef, »Jimmy kam fast nie ins Büro, er war immer auf Reisen, hier tauchte er nur einmal im Jahr auf, ich glaube, er lebte in Tampa, aber vielleicht hatte er auch gar keine Wohnung und verbrachte sein Leben in Hotels und auf Flughäfen.«
Er duschte, rasierte sich aber nicht. Dann hörte er den Anrufbeantworter ab. Die Akte Barry Seaman, die er mit nach Hause genommen hatte, ließ er auf dem Tisch liegen. Er zog sich frische Sachen an und verließ die Wohnung. Da noch Zeit war, ging er bei seiner Mutter vorbei. Ein ranziger Geruch stieg ihm in die Nase. Er ging in die Küche, und als er nichts Vergammeltes fand, band er den Müllbeutel zu und öffnete das Fenster. Dann setzte er sich aufs Sofa und schaltete den Fernseher ein. Auf einem Regal neben dem Gerät standen ein paar Videos. Er überlegte kurz, ob er sie sich näher anschauen sollte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Sicher waren es Kassetten, auf denen seine Mutter Sendungen aufzeichnete, um sie sich später am Abend anzusehen. Er versuchte, an etwas Angenehmes zu denken. Versuchte in Gedanken die anstehenden Aufgaben zu ordnen. Vergeblich. Nachdem er eine Weile völlig reglos dagesessen hatte, schaltete er den Fernseher ab, nahm Schlüssel und Mülltüte und verließ die Wohnung. Bevor er hinunterging, klingelte er bei der Nachbarin. Niemand öffnete. Auf der Straße warf er die Mülltüte in eine überquellende Tonne.
Die Zeremonie war schlicht und in höchstem Maße pragmatisch. Er unterschrieb einige Papiere. Stellte noch einen Scheck aus. Nahm die Beileidsbezeugungen entgegen, von Mr. Tremayne zunächst, dann von Mr. Lawrence, der am Schluss auftauchte, als er schon im Gehen war, das Gefäß mit der Asche seiner Mutter unterm Arm. War die Totenfeier zu Ihrer Zufriedenheit?, fragte Mr. Lawrence. Während der Zeremonie sah er in der hintersten Ecke das große Mädchen wieder. Sie trug dieselben Sachen wie gestern, Jeans und schwarzes Kleid mit gelben Blumen. Er sah zu ihr hinüber und wollte ihr freundlich zunicken, aber sie sah ihn nicht an. Die übrigen Anwesenden waren Unbekannte, mehrheitlich jedoch Frauen, weshalb er annahm, dass es sich um Freundinnen seiner Mutter handelte. Nachher kamen zwei von ihnen auf ihn zu und sagten etwas, das er nicht verstand und das Ermutigung oder Vorwurf sein konnte. Er ging zu Fuß zurück zur Wohnung seiner Mutter. Er stellte die Urne zu den Videos und schaltete den Fernseher an. Der ranzige Geruch war verschwunden. Im ganzen Haus herrschte eine Stille, als wäre es unbewohnt oder als wären alle fort, um Dringendes zu erledigen. Vom Fenster aus sah er ein paar Jugendliche, die spielten und redeten (oder sich absprachen), aber alles in Etappen, das heißt, sie spielten ein Weilchen, brachen ab, steckten die Köpfe zusammen, redeten ein Weilchen und spielten weiter, unterbrachen sich erneut, und das wiederholte sich ein ums andere Mal.
Er fragte sich, was für eine Art Spiel das war und ob das Unterbrechen und Reden zum Spiel dazugehörte oder eine Unkenntnis seiner Regeln verriet. Er beschloss, rauszugehen. Nach einer Weile bekam er Hunger und setzte sich in ein kleines arabisches Lokal (ein ägyptisches oder jordanisches, er wusste es nicht), wo man ihm ein Fladenbrot mit gehacktem Lammfleisch vorsetzte. Als er aufbrach, fühlte er sich unwohl. In einer finsteren Straße erbrach er das Lammfleisch und behielt einen Geschmack nach Galle und Gewürzen im Mund zurück. Er sah einen Mann, der ein Hot-Dog-Wägelchen hinter sich herzog. Den holte er ein und verlangte ein Bier. Der Mann sah ihn an, als stünde Fate unter Drogen, und sagte, er dürfe keinen Alkohol verkaufen.
»Dann gib mir, was du hast«, sagte Fate.
Der Mann reichte ihm eine Cola. Fate zahlte und trank die ganze Flasche in einem Zug, während der Mann mit dem Wägelchen sich auf der schlecht erleuchteten Straße entfernte. Nach einer Weile sah er den Baldachin eines Kinos und erinnerte sich, dass er als Jugendlicher hier viele Nachmittage verbracht hatte. Er beschloss, hineinzugehen, obwohl die Kartenverkäuferin ihn darauf hinwies, dass der Film schon vor geraumer Zeit begonnen hatte.
Er blieb eine einzige Szene lang in seinem Sessel sitzen. Ein Weißer
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