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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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»Prom, Schrumpfwort aus griechisch Prometheus, Titan, der den Göttern die Schrift stahl, um sie den Menschen zu bringen.« Fußnote 58: »Adentunemul, geheime Schrift, aus Dreiecken gebildet.« Fußnote 59: »Machi, Hellseherin. Abgeleitet vom griechischen Verb mantis, hellsehen.« Fußnote 60: »Frühling. Das Gesetz des Admapu schrieb vor, dass Kinder im Sommer gezeugt wurden, wenn die Früchte reif sind; auf diese Weise kommen sie im Frühling zur Welt, wenn die Erde mit all ihrer Kraft erwacht; wenn alle Tiere und Vögel zur Welt kommen.«
    Daraus folgte erstens: Alle oder die meisten Araukaner waren Telepathen. Zweitens: Die araukanische Sprache war eng mit der Homers verbunden. Drittens: Die Araukaner haben den gesamten Erdball bereist, insbesondere Indien, das urtümliche Germanien und den Peleponnes. Viertens: Die Araukaner waren begnadete Seefahrer. Fünftens: Die Araukaner besaßen zwei Arten von Schrift, eine auf Knoten und eine auf Dreiecken beruhende, letztere geheim. Sechstens: Es wurde nicht recht klar, welcher Art die Kommunikation war, die Kilapán Adkintuwe nannte und die die Spanier, obschon sie von ihrer Existenz erfahren hatten, nie zu übersetzen vermochten. Vielleicht die Übermittlung von Nachrichten mit Hilfe von Astbewegungen an strategisch postierten Bäumen, etwa auf Berggipfeln? Ähnlich wie die Verständigung mittels Rauchzeichen bei den Indianern der nordamerikanischen Prärien? Siebtens: Die telepathische Verständigung wurde dagegen nie entdeckt, und wenn sie irgendwann nicht mehr funktionierte, dann weil die Spanier die Telepathen umgebracht hatten. Achtens: Die Telepathie ermöglichte es den chilenischen Araukanern außerdem, Verbindung zu den chilenischen Emigranten zu halten, die es in so wunderliche Gegenden verschlagen hatte wie das dichtbevölkerte Indien oder das grüne Deutschland. Neuntens: Musste man aus all dem schließen, dass auch O'Higgins Telepath war? Musste man daraus schließen, dass der Autor selbst, Lonko Kilapán, Telepath war? Nun, das musste man wohl tun.
    Und noch anderes konnte man daraus schließen (und, wenn man sich nur etwas anstrengte, sehen), dachte Amalfitano, während er sich gewissenhaft den Puls fühlte und das im nächtlichen Hinterhof hängende Buch von Dieste beobachtete. Sehen konnte man beispielsweise das Erscheinungsdatum des Buches, 1978, zur Zeit der Diktatur also, und auf das Klima von Triumph, Einsamkeit und Angst schließen, in dem es erschienen war. Sehen konnte man beispielsweise einen halb verrückten, aber diskreten Herrn mit indianischen Gesichtszügen, der mit den Vertretern des angesehenen Verlagshauses Editorial Universitaria in der Avenida San Francisco Nr. 454, Santiago, über den Preis verhandelt, den der Rassenhistoriker, Präsident der Confederación Indígena de Chile und Sekretär der Academia de la Lengua Araucana für die Veröffentlichung des Büchleins bezahlen soll, einen zu hohen Preis, den Herr Kilapán mit mehr vergeblicher Illusion als Durchsetzungsvermögen zu drücken versucht, obwohl der Verlagsvertreter weiß, dass sie nicht gerade in Aufträgen ertrinken und sie ihm durchaus einen kleinen Rabatt gewähren könnten, zumal das Männchen schwört, er habe noch zwei weitere vollständig abgeschlossene und durchgesehene Bücher (Araukanische und Griechische Legenden und Der Ursprung des amerikanischen Menschen und die Verwandtschaft zwischen Araukanern, Ariern, Urgermanen und Griechen), außerdem Stein und Bein schwört, sie ihnen anzuvertrauen, weil, ehrenwerte Herren, ein von Editorial Universitaria verlegtes Buch ein Buch ist, das auf den ersten Blick distinguiert wirkt, und diese letzte Tirade ist es, die den Verlagsvertreter überzeugt, den Sachbearbeiter, den Winkeladvokaten, der sich mit derlei Angelegenheiten beschäftigt und ihm den kleinen Rabatt gewährt. Das Wörtchen distinguiert. Das Wörtchen Distinktion. Ah, ah, ah, ah, keucht Amalfitano und ringt nach Luft, als hätte er einen plötzlichen Asthmaanfall. Ah, Chile.
    Selbstverständlich war es auch möglich, andere Szenarien zu sehen, oder dieses unselige Bild aus anderen Blickwinkeln. So wie nämlich das Buch mit einem rechten Kinnhaken begann (»Der Yekmonchi namens Chile deckte sich, geographisch und politisch, mit dem griechischen Staat«), konnte der aktive Leser, wie Cortázar ihn propagierte, die Lektüre seinerseits mit einem Tritt in die Eier des Autors beginnen und in ihm sofort einen Strohmann sehen, ein Faktotum im Dienste irgendeines

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