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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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sich nicht. Wir wichen zurück. Der Typ rückte nach. Wir blieben stehen. Der Typ ebenfalls. Wir wichen wieder zurück. Der Typ kam uns hinterher. Endlich erreichten wir den Wagen mit dem kleinen Nelson Sanchez am Steuer, und der Typ blieb weniger als drei Meter von uns entfernt stehen. Als er den Wagen startete, hob der Typ das Gewehr an die Schulter und zielte auf uns. Gib Gas, sagte ich. Nein, sagte Marius, langsam, langsam. Der Wagen rollte im Rückwärtsgang zur Hauptstraße vor, und der Typ ging mit angelegtem Gewehr hinter uns her. Jetzt gib Gas, sagte Marius, und als der kleine Nelson das Gaspedal durchtrat, blieb der Typ wie angewurzelt stehen und wurde immer kleiner, bis er aus dem Rückspiegel verschwand. Natürlich konnte Marius mit dem Motor gar nichts anfangen, und trotz aller Pflege starb der Seestern nach ein oder zwei Wochen und landete in der Mülltonne. Wenn man von Sternen spricht, tut man das in Wirklichkeit im übertragenen Sinne. Das nennt man Metapher. Bezeichnet man jemanden als Stern am Kinohimmel, ist das eine Metapher. Sagt man, der Himmel sei von Sternen übersät, ist das wieder eine Metapher. Wenn einer eine rechte Gerade kassiert und zu Boden geht, sagt man, er sehe Sterne. Ebenfalls eine Metapher. Die Metaphern sind unsere Art, uns in den Erscheinungen zu verlieren oder reglos im Meer der Erscheinungen zu verharren. In diesem Sinne ist eine Metapher wie ein Rettungsring. Man darf nur nicht vergessen, dass es Rettungsringe gibt, die schwimmen, und Rettungsringe, die wie Blei auf den Grund sinken. Das sollte man nie vergessen. Die Wahrheit ist, dass es nur einen Stern gibt, und dieser Stern ist weder eine Erscheinung noch eine Metapher und entsteigt auch keinem Traum oder Alptraum. Er befindet sich dort draußen. Es ist die Sonne. Sie ist leider Gottes der einzige Stern. Als ich klein war, habe ich mal einen Science-Fiction-Film gesehen. Darin kommt ein Raumschiff vom Kurs ab und treibt auf die Sonne zu. Die Astronauten kriegen Kopfschmerzen, so fängt es an. Dann fließt der Schweiß in Strömen und sie reißen sich die Raumanzüge vom Leib, aber auch so schwitzen sie wie verrückt und dehydrieren. Die Schwerkraft der Sonne zieht sie unbarmherzig an. Unter dem Einfluss der Sonne beginnt die Außenhülle des Raumschiffs zu schmelzen. Der Zuschauer in seinem Kinosessel spürt unweigerlich eine unerträgliche Hitze. Ich weiß nicht mehr, wie es ausging. Ich glaube, es gelingt ihnen, sich in letzter Minute zu retten und den Kurs des Raumschiffs zur Erde umzulenken. Und zurück bleibt die Sonne, riesig, ein wild gewordener Stern in der Unermesslichkeit des Raums.
    NÜTZLICHKEIT. Aber die Sonne kann auch nützlich sein, das weiß jeder, der bis drei zählen kann, sagte Seaman. Von nahem ist sie die Hölle, aber von weitem ist sie nützlich und schön, nur ein Vampir würde das bestreiten. Dann sprach er über Dinge, die früher als nützlich galten, über die sich alle einig waren und die heute eher Misstrauen ernten, wie das Lächeln, zum Beispiel. In den Fünfzigern, sagte er, konnte dir ein Lächeln Türen öffnen. Ich weiß nicht, ob es Breschen schlug, aber Türen öffnete es auf jeden Fall. Heute macht ein Lächeln misstrauisch. Früher, wenn du Verkäufer warst und irgendwo neu anfingst, tatest du das am besten mit einem strahlenden Lächeln. Das galt auch, wenn du Kellner, Vorstand, Schreibkraft, Arzt, Drehbuchautor oder Gärtner warst. Die Einzigen, die nie lächelten, waren Polizisten und Gefängniswärter. Die verzogen keine Miene. Aber alle anderen versuchten zu lächeln. Es war das Goldene Zeitalter der Zahnärzte der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Schwarzen lächelten immer, klar. Die Weißen lächelten. Die Asiaten. Die Latinos. Heute wissen wir, dass sich hinter einem Lächeln dein schlimmster Feind verbergen kann. Anders gesagt, wir vertrauen niemandem mehr, schon gar nicht denen, die lächeln, weil wir wissen, dass die etwas von uns wollen. Trotzdem strotzt das amerikanische Fernsehen von lächelnden Menschen mit immer perfekteren Gebissen. Wollen sie, dass wir ihnen Vertrauen schenken? Nein. Wollen sie uns weismachen, dass sie gute Menschen sind, die niemandem etwas antun? Auch nicht. In Wirklichkeit wollen sie nichts von uns. Sie wollen uns nur ihre Gebisse und ihr Lächeln zeigen und von uns dafür bewundert werden. Bewundert. Sie wollen, dass wir sie anschauen, sonst nichts. Ihre perfekten Gebisse, ihre perfekten Körper, ihre perfekten Umgangsformen, als würden

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