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sie sich ständig von der Sonne loslösen und wären glühende Brocken, Splitter brennender Hölle, deren Anwesenheit auf diesem Planeten lediglich ihrem Bedürfnis nach Huldigung geschuldet war. Ich kann mich nicht erinnern, sagte Seaman, dass Kinder Drähte im Mund trugen, als ich klein war. Heute kenne ich fast keine Kinder, die nicht damit herumlaufen. Das Unnütze setzt sich nicht als Lebensqualität durch, sondern als Mode oder Statussymbol, und Mode wie auch Statussymbole verlangen nach Bewunderung, Huldigung. Moden haben natürlich eine kurze Lebenserwartung, ein Jahr, vier Jahre höchstens, und durchlaufen dann alle Stadien des Verfalls. Dagegen verfault das Statussymbol erst, wenn der Leichnam verfault, der es im Leben getragen hat. Dann sprach er über nützliche Dinge, die der Körper braucht. Vor allem eine ausgewogene Ernährung. Ich sehe in dieser Kirche viele Übergewichtige, sagte er. Ich vermute, dass wenige von euch Salat essen. Vielleicht ist das der passende Moment, euch ein Rezept zu geben. Das Rezept heißt: Rosenkohl mit Zitrone. Schreibt bitte mit. Zutaten für vier Personen: 800 Gramm Rosenkohl, Saft und geriebene Schale einer Zitrone, eine Zwiebel, ein Bund Petersilie, 40 Gramm Butter, schwarzer Pfeffer und Salz. Zubereitung wie folgt. Erstens: Rosenkohl putzen und die äußeren Blätter entfernen. Zwiebel und Petersilie fein hacken. Zweitens: Rosenkohl in Salzwasser etwa zwanzig Minuten kochen, bis er gar ist. Danach abgießen und beiseitestellen. Drittens: In einer Pfanne die Zwiebel in der zerlassenen Butter andünsten, Zitronensaft und -schale dazugeben und nach Geschmack salzen und pfeffern. Viertens: Den Rosenkohl dazugeben, mit der Soße vermischen, einige Minuten ziehen lassen, mit Petersilie bestreuen und mit Zitronenscheibchen garniert servieren. Ihr werdet euch die Finger danach lecken, sagte Seaman. Ohne Cholesterin, gut für die Leber, gut für den Kreislauf, wahnsinnig gesund. Danach verlas er das Rezept für Endiviensalat mit Garnelen und das für Brokkolisalat, und danach sagte er, der Mensch lebe nicht von gesundem Essen allein. Bücher müsse er lesen, sagte er. Nicht so viel fernsehen. Experten sagen, fernsehen sei nicht gesundheitsschädlich. Ich erlaube mir, das zu bezweifeln. Fernsehen ist nicht gut für die Augen, und bei Handys tappt man noch immer im Dunkeln. Möglich, dass sie Krebs verursachen, wie einige Wissenschaftler meinen. Ich will das weder bestätigen noch ausschließen, aber möglich ist es. Ich sage nur, man muss Bücher lesen. Der Pastor weiß, dass ich die Wahrheit sage. Lest Bücher von schwarzen Autoren. Und schwarzen Autorinnen. Aber bleibt nicht dabei stehen. Das ist meine eigentliche Botschaft an diesem Abend. Wer liest, verschwendet nicht seine Zeit. Ich habe im Gefängnis gelesen. Bücher gewälzt. Viele Bücher. Ich habe Bücher verschlungen, als wären es schmackhafte Rippchen. In den Gefängnissen geht früh das Licht aus. Man legt sich ins Bett und hört Geräusche. Schritte. Schreie. Als würde sich das Gefängnis nicht in Kalifornien befinden, sondern im Innern des Merkur, des Planeten, der der Sonne am nächsten ist. Du fühlst dich gleichzeitig heiß und kalt, und das ist der deutlichste Hinweis darauf, dass du dich allein fühlst oder krank bist. Natürlich versucht man an andere Dinge zu denken, an schöne Dinge, aber das klappt nicht immer. Manchmal zündet irgendein Wächter von der inneren Torwache eine Lampe an, und ein Lichtstrahl dieser Lampe fällt durch die Gitterstäbe deiner Zelle. Das ist mir ganz oft passiert. Der Schein einer schlecht postierten Lampe oder Neonröhren vom oberen oder benachbarten Gang. Dann nahm ich mein Buch, suchte mir den hellsten Platz und begann zu lesen. Mühsam, weil die Buchstaben und die Absätze durch die quecksilbrige, unterirdische Atmosphäre ganz kopflos und eingeschüchtert wirkten. Aber egal, ich las und las, manchmal mit einer Geschwindigkeit, die mich selbst verblüffte, manchmal mit großer Langsamkeit, als wäre jeder Satz oder jedes Wort ein Leckerbissen, nicht nur fürs Gehirn, sondern für den ganzen Körper. Und so konnte ich Stunden zubringen, vergessen die Müdigkeit und die unbestreitbare Tatsache, dass ich hier gefangen saß, weil ich mich für meine Brüder und Schwestern eingesetzt hatte, von denen es den meisten herzlich egal war, ob ich hier drinnen verfaulte. Ich wusste, dass ich etwas Nützliches tat. Das war das Entscheidende. Ich tat etwas Nützliches, während die
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