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man sah, dass die Zwillinge verrückt nach ihr waren. Das sind die Besitzer der Camaros, dachte Fate. Außerdem fiel ihm auf, dass er im Restaurant der einzige Schwarze war.
Der junge Typ vom Nachbartisch sagte etwas über Inspiration. Fate verstand nur: Für uns waren Sie eine Inspiration. Der Weißhaarige sagte, das sei nicht der Rede wert. Der Jüngere hob die Hände vors Gesicht und sagte etwas über den Willen, den Willen, einen Blick auszuhalten. Dann nahm er die Hände vom Gesicht und sagte mit leuchtenden Augen: Ich meine keinen natürlichen Blick, aus dem Reich der Natur, sondern einen abstrakten Blick. Der Weißhaarige sagte: Klar. Damals als Sie Jurevich geschnappt haben, sagte der Jüngere, dann wurde seine Stimme vom dröhnenden Lärm eines Dieselmotors übertönt. Ein Schwerlaster hielt auf dem Vorplatz. Die Kellnerin stellte einen Kaffee und das Steak mit Salsa vor ihn hin. Der Jüngere sprach weiter über diesen Jurevich, den der Alte geschnappt hatte.
»Es war nicht schwer«, sagte der Weißhaarige.
»Ein unsystematischer Mörder«, sagte der Jüngere und hob eine Hand ans Gesicht, als müsste er niesen.
»Nein«, sagte der Weißhaarige, »ein systematischer Mörder.«
»Ach, ich dachte, er war unsystematisch«, sagte der Jüngere.
»Nein, nein, nein, ein systematischer Mörder«, sagte der Weißhaarige.
»Welche sind die schlimmsten?«, sagte der Jüngere.
Fate schnitt ein Stück Fleisch ab. Es war dick und zart und schmeckte gut. Die Salsa war lecker, vor allem, wenn man sich an die Schärfe gewöhnt hatte.
»Die unsystematischen«, sagte der Weißhaarige. »Ihr Verhaltensmuster ist nicht so leicht zu durchschauen.«
»Aber möglich ist es doch?«, sagte der Jüngere.
»Mit Zeit und Geld ist alles möglich«, sagte der Weißhaarige.
Fate machte der Kellnerin ein Zeichen. Die Mexikanerin legte einem der Zwillinge den Kopf auf die Schulter, und der andere lächelte, als wäre das der Normalfall. Fate nahm an, dass sie mit dem Zwilling verheiratet sei, der sie ihm Arm hielt, dass aber die Ehe an der Liebe und an den Hoffnungen des anderen nichts geändert hatte. Der Indianer-Vater verlangte die Rechnung, und der Indianer-Junge hatte einen Comic hervorgezaubert und las. Fate sah den Fahrer, der eben seinen Laster abgestellt hatte, über den Vorplatz gehen. Er kam von der Tankstellentoilette und kämmte sich mit einem winzigen Kamm die blonden Haare. Die Kellnerin fragte, was er wünsche. Noch einen Kaffee und ein großes Glas Wasser.
»Wir haben uns an den Tod gewöhnt«, hörte er den Jüngeren sagen.
»Das war immer so«, sagte der Weißhaarige. »Immer.«
Um die Mitte oder gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts, sagte der Weißhaarige, pflegte die Gesellschaft den Tod durch das Filtersieb der Worte zu streichen. Liest man Berichte aus jener Zeit, könnte man meinen, dass es damals fast keine Kriminalität gab oder dass ein Mord imstande war, ein ganzes Land zu erschüttern. Wir wollten den Tod nicht im Haus, nicht in unseren Träumen und Phantasien, und doch ist es eine Tatsache, dass fürchterliche Verbrechen begangen wurden, Metzeleien und Vergewaltigungen jeglicher Art, sogar Serienmorde. Die meisten Serienmörder wurden natürlich nie gefasst, denken Sie nur an den berühmtesten Fall jener Zeit. Niemand wusste, wer Jack the Ripper war. Alles durchlief den sorgsam unserer Angst angepassten Filter der Worte. Was tut ein Kind, wenn es Angst hat? Es schließt die Augen. Was tut ein Kind, das man vergewaltigen und töten wird? Es schließt die Augen. Und schreit, aber zuerst schließt es die Augen. Dazu dienten die Worte. Interessant ist, dass die Archetypen menschlichen Irrsinns und menschlicher Grausamkeit nicht von den Vertretern jener Epoche, sondern von unseren Urahnen erfunden wurden. Die Griechen haben das Böse gewissermaßen erfunden, sie sahen das Böse, das wir alle in uns tragen, aber die Zeugnisse, die Beweise für dieses Böse erschüttern uns nicht mehr, sie erscheinen uns belanglos, unverständlich. Das Gleiche gilt für den Wahnsinn. Es waren die Griechen, die ein Panoptikum des Wahnsinns entwarfen, und doch sagt uns dieses Panoptikum heute nichts mehr. Sie werden einwenden: Alles verändert sich. Sicher, alles verändert sich, die Archetypen jedoch verändern sich nicht, genauso wenig wie unsere Natur sich verändert. Eine plausible Erklärung ist, dass die damalige Gesellschaft sehr klein war. Ich spreche vom neunzehnten, achtzehnten, vom siebzehnten Jahrhundert.
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