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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Zusammenbruch der realsozialistischen Regime. Das musste so kommen, ich habe das schon zehn Jahre vorher prophezeit, antwortete Anthony Jones. Dann fing er aus heiterem Himmel an, die Internationale zu singen. Er öffnete das Fenster und schmetterte mit einer tiefen Stimme, die Fate ihm niemals zugetraut hätte, die erste Strophe: Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt. Als er fertig war, fragte er Fate, ob er nicht auch fände, dass die Hymne wie gemacht sei für die Schwarzen. Keine Ahnung, sagte Fate, so habe ich darüber nie nachgedacht. Dann schilderte ihm Jones aus dem Gedächtnis die Geschichte der Kommunisten in Brooklyn. Während des Zweiten Weltkriegs hatte es über tausend Mitglieder gegeben. Nach dem Krieg stieg ihre Zahl auf dreizehnhundert. Zu Beginn der McCarthy-Ära war sie bereits auf rund sechshundert zusammengeschmolzen, und bei ihrem Ende besaß Brooklyn noch höchstens zweihundert Kommunisten. In den Sechzigern halbierte sich ihre Anzahl erneut, und Anfang der Siebziger konnte man gerade noch dreißig Leutchen zählen, die sich auf fünf unbeugsame kommunistische Zellen verteilten. Ende der Siebziger waren es nur noch zehn. Und Anfang der Achtziger nur noch vier. In den folgenden Jahren starben zwei von den vieren an Krebs und einer trat sang- und klanglos aus der Partei aus. Vielleicht unternahm er bloß eine Reise und starb auf dem Hin- oder Rückweg, mutmaßte Anthony Jones. Doch tauchte er nie wieder auf, weder in der Parteizentrale noch in seiner Wohnung oder in den Kneipen, in die er gewöhnlich ging. Vielleicht ist er zu seiner Tochter nach Florida gezogen. Er war Jude und hatte dort eine Tochter. Jedenfalls war ich 1987 als Einziger übrig. Und ich bin noch immer hier, sagte er. Warum?, fragte Fate. Anthony Jones dachte eine Weile über seine Antwort nach. Schließlich schaute er ihm in die Augen und sagte:
    »Weil jemand die Zelle einsatzbereit halten muss.«
    Jones' Augen waren klein und kohlrabenschwarz und seine Lider faltig. Wimpern hatte er fast keine. Die Brauen gingen ihm allmählich aus, und manchmal, wenn er aus dem Haus ging, setzte er eine dunkle Sonnenbrille auf und nahm einen Stock mit, den er später neben die Tür stellte. Es kam vor, dass er tagelang nichts aß. Ab einem gewissen Alter ist essen nicht gut, sagte er. Er hatte keinerlei Kontakt mit Kommunisten aus anderen Teilen der Vereinigten Staaten oder dem Ausland, außer mit einem emeritierten Professor der University of California, Los Angeles, einem gewissen Doktor Minski, mit dem er ab und zu Briefe wechselte. Bis vor etwa fünfzehn Jahren gehörte ich zur Dritten Internationale. Minski hat mich überredet, in die Vierte einzutreten, sagte er. Danach sagte er:
    »Ich will dir ein Buch schenken, Junge, das dir eine Menge nützen wird.«
    Fate nahm an, Jones werde ihm das Manifest von Marx schenken, vermutlich, weil er davon im Wohnzimmer in den Ecken und unter den Stühlen stapelweise Exemplare gesehen hatte, die Jones selbst herausgegeben hatte, weiß der Teufel, von welchem Geld oder mittels welcher falschen Versprechungen an die Drucker, aber als der Alte ihm das Buch in die Hand drückte, stellte er erstaunt fest, dass es sich nicht um das Manifest handelte, sondern um einen dicken Wälzer mit dem Titel Der Sklavenhandel, geschrieben von einem gewissen Hugh Thomas, dessen Namen ihm nichts sagte. Er wollte es zunächst nicht annehmen.
    »Das ist ein teures Buch, und sicher ist das Ihr einziges Exemplar«, sagte er.
    Darüber solle er sich keine Gedanken machen, lautete Anthony Jones' Antwort, es habe ihn nicht Geld, sondern Grips gekostet, woraus er schloss, dass es gestohlen war, aber auch das kam ihm unwahrscheinlich vor, weil das nicht zu dem Alten passte, doch konnte es natürlich sein, dass er in der Buchhandlung, wo er seine Raubzüge tätigte, einen Komplizen hatte, einen jungen Schwarzen, der wegschaute, wenn Jones ein Buch in seinem Jackett verschwinden ließ.
    Erst Stunden später, beim Durchblättern des Buches in seiner Wohnung, fiel ihm auf, dass der Autor ein Weißer war. Ein englischer Weißer, der obendrein Professor an der Royal Military Academy Sandhurst gewesen war, für Fate gleichbedeutend mit einem Truppenausbilder, einem verdammten britischen Sergeant in kurzen Hosen, weshalb er das Buch ungelesen beiseitelegte. Das Interview mit Anthony Jones fand übrigens ein positives Echo. Fate stellte fest, dass sich der Artikel für die meisten seiner Kollegen kaum

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