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von den einschlägigen afroamerikanischen Klischees abhob. Ein durchgeknallter Prediger, ein durchgeknallter ehemaliger Jazzmusiker, das einzige - durchgeknallte - Mitglied der kommunistischen Partei Brooklyns (Vierte Internationale). Sozialkitsch. Aber der Report kam gut an, und in kurzer Zeit avancierte er zu einem festangestellten Redakteur. Er sah Anthony Jones nie wieder, so wie er höchstwahrscheinlich auch Barry Seaman nie wiedersehen würde.
Als er aufwachte, war die Sonne noch nicht aufgegangen.
Bevor er Detroit verließ, ging er in die einzige anständige Buchhandlung der Stadt und kaufte Der Sklavenhandel von Hugh Thomas, dem Exprofessor von der Royal Military Academy Sandhurst. Danach fuhr er die Woodward Avenue entlang und drehte eine Runde durch die Innenstadt. In einer Cafeteria in Greektown bestellte er eine Tasse Kaffee und Toast zum Frühstück. Als er ein reichhaltigeres Essen ablehnte, fragte ihn die Bedienung, eine Blondine Anfang vierzig, ob er krank sei. Seinem Magen gehe es nicht gut, sagte er. Daraufhin nahm die Bedienung ihm die Tasse Kaffee wieder weg, die sie bereits serviert hatte, und sagte, sie habe etwas Besseres für ihn. Kurz darauf tauchte sie mit einem Tee aus Anis und Boldo-Blättern wieder auf. Fate hatte so etwas noch nie getrunken und schien anfangs auch nicht gewillt, das zu ändern.
»Das ist gut für dich, Kaffee ist ganz schlecht«, sagte die Bedienung.
Sie war eine große, schlanke Frau mit sehr großen Brüsten und hübschen Hüften. Sie trug einen schwarzen Rock, eine weiße Bluse und flache Schuhe. Einen Moment lang sagte keiner ein Wort, ein erwartungsvolles Schweigen, bis Fate die Schultern zuckte und in kleinen Schlucken seinen Tee trank. Da lächelte die Bedienung, ging und kümmerte sich um andere Kunden.
Er wollte eben seine Hotelrechnung bezahlen, als er eine Nachricht aus New York entdeckte. Eine Stimme, die er nicht zuordnen konnte, bat ihn, sich so schnell wie möglich mit seinem Ressortchef oder, besser noch, mit dem Leiter der Sportredaktion in Verbindung zu setzen. Er rief noch von der Hotellobby aus an. Er erreichte seine Schreibtischnachbarin, die ihn bat, zu warten, sie werde versuchen, den Chef an den Apparat zu holen. Kurz darauf hörte er eine fremde Stimme, die sich ihm als Jeff Roberts, Leiter der Sportredaktion, vorstellte und gleich von einem Boxkampf redete. Count Pickett kämpft, sagte er, und wir haben niemanden, der das machen kann. Der Mann nannte ihn Óscar, als würden sie sich seit Jahren kennen, und sprach pausenlos von Count Pickett, einer Mittelgewichtshoffnung aus Hadern.
»Und was hat das mit mir zu tun?«, sagte Fate.
»Komm schon, Óscar«, sagte der Sportchef, »du weißt doch, dass Jimmy Lowell tot ist, und wir haben niemanden, um ihn zu ersetzen.«
Wahrscheinlich fand der Kampf in Detroit oder Chicago statt, dachte Fate, und ihm gefiel der Gedanke, sich noch ein paar Tage von New York fernzuhalten.
»Und du möchtest, dass ich über den Kampf berichte.«
»Erraten, Junge«, sagte Roberts, »um die fünf Seiten, ein Porträt von Pickett, kurz und knackig, der Kampf und etwas Lokalkolorit drum herum.«
»Wo findet der Kampf statt?«
»In Mexiko, Junge«, sagte der Sportchef, »und denk dran, wir zahlen höhere Spesen als deine Abteilung.«
Mit gepacktem Koffer fuhr Fate ein letztes Mal bei Seaman vorbei. Der Alte saß gerade über einem Buch und machte sich Notizen. Aus der Küche drang der Geruch von Kräutern und gebratenem Gemüse.
»Ich reise ab«, sagte er, »Ich wollte mich nur verabschieden.«
Seaman fragte, ob er noch etwas Zeit zum Essen habe.
»Nein, leider keine Zeit mehr«, sagte Fate.
Sie umarmten einander, und Fate sprang die Treppe hinunter, wie jemand, der es eilig hatte, auf die Straße zu gelangen, oder wie ein Kind, das einem freien Tag mit seinen Freunden entgegenfiebert. Auf der Fahrt zum Flughafen von Detroit Wayne County dachte er an die merkwürdigen Bücher von Seaman, an die Kurzgefasste Französische Enzyklopädie und an das Buch, das er nicht gesehen hatte, aber von dem Seaman behauptete, er habe es im Gefängnis gelesen, das Kurze Kompendium der Werke Voltaires, und er musste schallend lachen.
Am Flughafen kaufte er ein Ticket nach Tucson. Während er am Tresen einer Cafeteria lehnte und wartete, erinnerte er sich an den Traum der vergangenen Nacht mit Anthony Jones, der schon mehrere Jahre tot war. Wie damals fragte er sich, woran er wohl gestorben sei, und die einzige Antwort, die
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