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2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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ihm einfiel, lautete, an Altersschwäche. Auf einem Spaziergang durch Brooklyn hatte Anthony Jones sich müde gefühlt, hatte sich auf den Bordstein gesetzt und eine Sekunde später aufgehört zu existieren. Vielleicht ist es meiner Mutter ähnlich ergangen, dachte Fate, doch im Grunde wusste er, dass das nicht stimmte. Als die Maschine vom Detroiter Flughafen abhob, ging über der Stadt ein Unwetter nieder.
    Fate schlug das Buch des weißen Exprofessors aus Sandhurst auf und begann auf Seite 362 zu lesen. Dort hieß es: Jenseits des Niger-Deltas schwenkt die afrikanische Küste wieder nach Süden, und in diesem Gebiet, den Kameruns, errichteten Liverpooler Kaufleute einen neuen Stützpunkt des Sklavenhandels. Ein ganzes Stück weiter südlich entwickelte sich in den 1780er Jahren der Fluss Gabun oberhalb von Cape Lopez zu einer florierenden Region des Sklavenhandels. Von diesem Gebiet sagte Reverend John Newton, es besitze »die menschlichste und moralischste Bevölkerung, die ich je in Afrika angetroffen habe«, vielleicht »weil diese Menschen damals am wenigsten mit Europa in Berührung standen«. Aber vor der Küste hatten die Holländer seit langem die Insel Corisco (der Name bedeutet im Portugiesischen »Blitz«) als Handelszentrum genutzt, wenn auch nicht ausschließlich für Sklaven. Daraufhin betrachtete er eine Abbildung - das Buch enthielt eine ganze Menge -, die eine portugiesische Festung namens Elmina an der Goldküste zeigte, die 1637 von den Holländern erobert wurde. Sie war dreihundertfünfzig Jahre lang ein Zentrum des Sklavenhandels. Über der Festung sowie über einer Hilfsfeste auf einem benachbarten Berg wehte eine Fahne, die Fate nicht zuordnen konnte. Zu welchem Königreich gehörte diese Fahne?, fragte er sich, bevor ihm die Augen zufielen und er mit dem Buch auf dem Schoß einschlief.
    Am Flughafen von Tucson mietete er sich einen Wagen, kaufte eine Straßenkarte und verließ die Stadt in Richtung Süden. Wahrscheinlich weckte die trockene Luft der Wüste seinen Appetit, und er beschloss, beim nächsten Rastplatz anzuhalten. Zwei Camaros gleichen Baujahrs und gleicher Farbe überholten ihn hupend. Er nahm an, dass sie sich ein Wettrennen lieferten. Die Wagen waren vermutlich frisiert, ihre Karosserien blitzten in der Sonne von Arizona. Er kam an einer kleinen Farm vorbei, die Orangen verkaufte, hielt aber nicht an. Die Farm lag rund hundert Meter abseits der Straße, und der Orangenstand, ein alter Planwagen mit großen Holzspeichenrädern, befand sich unmittelbar am Randstreifen und wurde von zwei mexikanischen Jungs betreut. Ein paar Kilometer weiter tauchte eine Raststätte vor ihm auf, EI Rincón de Cochise, und dort parkte er auf einem riesigen Vorplatz neben einer Zapfsäule. Die beiden Camaros standen neben einer Fahne mit einem roten Querstreifen oben, einem schwarzen unten und einem weißen Kreis in der Mitte, in dem Automobilclub Chiricahua zu lesen war. Einen Moment lang dachte er, die Fahrer der beiden Camaros seien Indianer, aber dann erschien ihm der Gedanke absurd. Er setzte sich in einer Ecke des Restaurants ans Fenster, von wo aus er seinen Wagen sehen konnte. Am Nachbartisch saßen zwei Männer. Der eine war jung, groß und sah aus wie ein Informatikprofessor. Er besaß ein umgängliches Lächeln und hob manchmal die Hände vors Gesicht, mit einer Miene, die ebenso gut Erstaunen wie Entsetzen oder irgendetwas anderes ausdrücken konnte. Das Gesicht des anderen konnte er nicht sehen, aber er musste deutlich älter sein als sein Begleiter. Er hatte einen massigen Hals, schlohweißes Haar und trug eine Sonnenbrille. Wenn er sprach oder zuhörte, zeigte er keinerlei Regung, gestikulierte und rührte sich nicht.
    Die Kellnerin, die ihn bediente, sah mexikanisch aus. Er bestellte einen Kaffee und ging minutenlang die Liste der Speisen durch. Er fragte, ob es Club-Sandwich gebe. Die Kellnerin schüttelte den Kopf. Dann ein Steak, sagte Fate. Steak mit Salsa?, fragte die Kellnerin. Woraus ist die Salsa?, fragte Fate. Aus Chili, Tomate, Zwiebel und Koriander. Und wir tun noch Gewürze dazu. In Ordnung, sagte er, probieren wir es aus. Als die Kellnerin gegangen war, schaute er sich im Restaurant um. An einem Tisch saßen zwei Indianer, ein Erwachsener und ein Jugendlicher, vielleicht Vater und Sohn. An einem anderen saßen zwei Weiße und eine Mexikanerin. Die Typen glichen einander aufs Haar, eineiige Zwillinge um die fünfzig, die Mexikanerin mochte etwa fünfundvierzig sein, und

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