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sagte der Journalist.
»Wer ist der Masseur?«, fragte Fate.
»Wir haben ihn noch nicht gesehen, ich glaube, er kommt nie in den Hof, er ist blind, blind von Geburt, er hockt den ganzen Tag in der Küche und isst oder sitzt auf der Toilette und scheißt oder liegt in seinem Zimmer auf dem Boden und liest Bücher in Blindenschrift, wie heißt diese Schrift noch gleich?«
»Brailleschrift«, sagte der andere Journalist.
Fate stellte sich den Masseur vor, lesend in einem stockdunklen Zimmer, und bekam eine leichte Gänsehaut. Das muss dem Glück schon sehr ähnlich sein, dachte er. An der Tränke kippte García Omar Abdul einen Eimer kaltes Wasser über den Rücken. Der Kalifornier zwinkerte Fate zu.
»Wie fanden Sie uns?«, fragte er.
»Nicht schlecht«, antwortete Fate, um etwas Nettes zu sagen, »aber ich habe den Eindruck, dass Pickett sehr viel besser vorbereitet sein wird.«
»Pickett ist eine scheiß Schwuchtel«, sagte Omar Abdul. »Kennst du ihn?«
»Ich habe ihn ein paar Mal im Fernsehen kämpfen sehen. Er kann sich nicht bewegen.«
»Ich habe ihn ehrlich gesagt noch nie gesehen«, sagte Fate.
Omar Abdul sah ihn verwundert an.
»Du hast Pickett noch nie kämpfen gesehen?«, sagte er.
»Ehrlich gesagt, nein, der für Boxen zuständige Kollege ist letzte Woche gestorben, und da unsere Personaldecke nicht gerade üppig ist, musste ich einspringen.«
»Setz auf Merolino«, sagte Omar Abdul nach kurzem Schweigen.
»Viel Glück«, sagte Fate, bevor er fuhr.
Der Rückweg kam ihm kürzer vor. Eine Zeitlang folgte er den Rücklichtern der Journalisten, bis er sie vor einer Bar im bereits asphaltierten Teil von Santa Teresa parken sah. Er hielt neben ihnen und fragte, was sie vorhätten. Wir gehen essen, sagte einer der beiden Journalisten. Obwohl er keinen Hunger verspürte, willigte er ein, mit ihnen ein Bier zu trinken. Der eine Journalist, Chucho Flores, arbeitete für eine hiesige Lokalzeitung und einen Radiosender. Der andere, Angel Martínez Mesa, der auf der Ranch den Gong geschlagen hatte, schrieb für eine Sportzeitung in DF. Martínez Mesa war ein schmächtiger Mann um die Fünfzig. Chucho Flores war fünfunddreißig, kaum kleiner als Fate und lächelte unentwegt. Das Verhältnis zwischen Flores und Martínez Mesa, vermutete Fate, war das zwischen dankbarem Schüler und eher gleichgültigem Lehrer. In der Gleichgültigkeit von Martínez Mesa lag jedoch weder Arroganz noch Überheblichkeit, sondern Müdigkeit. Eine Müdigkeit, die sogar in seiner nachlässigen Art sich zu kleiden zum Ausdruck kam, in seinem speckigen Anzug und den glanzlosen Schuhen, das genaue Gegenteil von seinem Schüler, der mit Markenanzug, Markenkrawatte und goldenen Manschettenknöpfen ausstaffiert war und sich wahrscheinlich für einen eleganten, gutaussehenden Mann hielt. Während die Mexikaner gegrilltes Fleisch mit Pommes frites aßen, dachte Fate an die Tätowierung von García. Dann verglich er die Einsamkeit jener Ranch mit der Einsamkeit der Wohnung seiner Mutter. Er dachte an ihre Asche, die dort noch herumstand. Dachte an die tote Nachbarin. Dachte an das Viertel von Barry Seaman. Und alles, was in den Lichtschein seiner Erinnerung geriet, während die beiden Mexikaner aßen, kam ihm trostlos vor.
Als sie Martínez Mesa im Sonora Resort abgesetzt hatten, bestand Chucho Flores darauf, noch ein letztes Glas mit ihm zu trinken. In der Hotelbar saßen etliche Journalisten, darunter auch einige US-Amerikaner, mit denen er gern gesprochen hätte, aber Chucho hatte andere Pläne. Sie fuhren zu einer Bar in einer Seitenstraße im Zentrum von Santa Teresa, einer Kneipe mit Wänden in fluoreszierenden Farben und einem im Zickzack verlaufenden Tresen. Sie bestellten Orangensaft mit Whisky. Der Barkeeper kannte Chucho Flores. Der Typ wirkte weniger wie ein Barkeeper, dachte Fate, als wie der Besitzer des Ladens. Seine Bewegungen waren knapp und gebieterisch, sogar wenn er mit der Schürze, die er um die Hüften trug, Gläser abtrocknete. Dabei war er ein junger Kerl, höchstens fünfundzwanzig, den Chucho Flores im Übrigen nicht weiter beachtete, weil er sich darauf konzentrierte, mit Fate über New York und über den Journalismus dort zu sprechen.
»Ich würde gern nach New York gehen«, gestand er, »und für irgendeinen spanischsprachigen Radiosender arbeiten.«
»Davon gibt es viele«, sagte Fate.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Chucho Flores, als hätte er schon viel Zeit über der Angelegenheit vergrübelt, und
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