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Teppichen, Parkett, Logen, Empore oder Olymp, Gebäude, die zu einer Zeit erbaut wurden, als der Film noch eine religiöse Erfahrung darstellte, alltäglich und trotzdem religiös, und die nach und nach von Banken oder Supermärkten oder Multiplexkinos verdrängt wurden. Heute gibt es nur noch ganz wenige von ihnen, heute sind alle Kinos Multiplexkinos mit kleinen Leinwänden, winzigen Sälen und ultrabequemen Sesseln. In einen der alten Kinopaläste passen leicht sieben dieser Multiplexkinos. Oder zehn. Oder fünfzehn, je nachdem. Und es gibt keine abgründige Erfahrung mehr, nicht mehr diesen Schwindel, bevor ein Film anfängt, im Innern eines Multiplex fühlt sich niemand mehr allein. Dann, erinnerte sich Fate, sprach er vom Ende des Heiligen.
Das Ende hatte wer weiß wo begonnen, wo, war Charly Cruz egal, vielleicht in den Kirchen, als die Pfarrer die lateinische Messe abschafften, oder in den Familien, als die Väter (in panischer Angst, glaub mir, Brother) die Mütter verließen. Bald erfasste das Ende des Heiligen auch das Kino. Man riss die großen Kinopaläste ab und baute widerliche Schuhkartonkinos, sogenannte Multiplexe, praktische Kinos, funktionale Kinos. Die Kathedralen fielen der Abrissbirne zum Opfer. Bis jemand das Video erfand. Ein Fernseher ist nicht das Gleiche wie eine Kinoleinwand. Dein Wohnzimmer ist nicht das Gleiche wie einer dieser alten, himmelweiten Kinosäle. Aber genau betrachtet, kommt es ihnen doch am nächsten. In erster Linie, weil das Video es dir erlaubt, einen Film ganz allein zu sehen. Du schließt die Fenster deiner Wohnung und schaltest den Fernseher ein. Du legst das Band ein und setzt dich in einen Sessel. Erste Bedingung: Allein sein. Zweite Bedingung: Alles genau vorbereiten, also den Film ausleihen, die Sachen kaufen, die du trinken willst, die Sachen, die du essen willst, die Uhrzeit festlegen, zu der du dich vor den Apparat setzen willst. Dritte Bedingung: Nicht ans Telefon gehen, die Klingel ignorieren und sich darauf einstellen, anderthalb oder zwei oder eindreiviertel Stunden in strikter, völliger Einsamkeit zu verbringen. Vierte Bedingung: Die Fernbedienung in Reichweite legen, um sich eine Szene gegebenenfalls mehrfach ansehen zu können. Das ist alles. Von diesem Moment an hängt alles vom Film und von dir ab. Wenn alles gutgeht, was nicht immer der Fall ist, macht man noch einmal die Erfahrung des Heiligen. Man steckt den Kopf in die eigene Brust, schlägt die Augen auf und sieht, skandierte Charly Cruz.
Was ist für mich das Heilige?, überlegte Fate. Der undeutliche Schmerz, den ich angesichts des Todes meiner Mutter empfinde? Das Wissen um das, was unabänderlich ist? Oder die Art, wie sich mir der Magen zusammenkrampft, wenn ich diese Frau anschaue? Und warum krampft sich mir der Magen zusammen, wenn sie mich ansieht, nicht aber, wenn ihre Freundin mich ansieht? Weil ihre Freundin eindeutig weniger schön ist, dachte Fate. Woraus folgt, dass das Heilige für mich die Schönheit ist, eine junge Frau mit vollkommen ebenmäßigen Gesichtszügen. Und wenn auf einmal die schönste Hollywood-Diva in dieses große und nicht minder kranke Restaurant träte, würde sich mir dann immer noch jedes Mal der Magen zusammenkrampfen, wenn mein Blick verstohlen den ihren kreuzte, oder würde im Gegenteil das plötzliche Erscheinen einer noch größeren Schönheit, einer mit Ruhm und Ansehen dekorierten Schönheit, den Krampf im Magen lindern und ihre Schönheit auf ein reales Maß zurechtstutzen, auf die eines etwas seltsamen Mädchens, das am Wochenende mit drei etwas eigenartigen Freunden und mit einer Freundin ausgeht, die man eher für eine Nutte halten könnte? Und wer bin ich, dass ich Rosita Méndez für eine Nutte halte?, dachte Fate. Was verstehe ich denn schon von mexikanischen Nutten, dass ich sie auf Anhieb erkennen könnte? Was verstehe ich von Unschuld und von Schmerz? Was verstehe ich von Frauen? Ich sehe gern Videos, dachte Fate. Ich gehe auch gern ins Kino. Ich schlafe gern mit Frauen. Ich habe im Augenblick keine feste Beziehung, aber ich weiß schon, was es heißt, eine zu haben. Sehe ich irgendwo das Heilige? Mir bieten sich da nur praktische Erfahrungen, dachte Fate. Eine Leere, die es zu füllen gilt, Hunger, den ich stillen, Leute, die ich zum Sprechen bringen muss, um meinen Artikel abschließen und verkaufen zu können. Und warum denke ich, dass die drei Begleiter von Rosa Amalfitano eigenartige Typen sind? Was ist so eigenartig an ihnen? Und warum
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