2666
Jungfrau hatte die Arme ausgebreitet, wie um all diese Reichtümer zum Geschenk zu machen. In ihrem Gesicht jedoch, das bemerkte Fate sofort, obwohl er betrunken war, lag ein gewisser Missklang. Ein Auge der Jungfrau war offen, das andere geschlossen.
Das Haus von Charly Cruz hatte viele Zimmer. Einige dienten nur als Abstellräume, in denen sich Videokassetten und DVDs aus seinem Laden oder seiner privaten Sammlung türmten. Das Wohnzimmer befand sich im Erdgeschoss. Zwei Sessel und zwei Sofas aus Leder, ein Holztisch und ein Fernseher. Die Sessel waren von guter Qualität, aber alt. Der Boden aus gelben, schwarz gemaserten Fliesen war schmutzig. Darüber konnten auch einige bunte indianische Teppiche nicht hinwegtäuschen. An einer Wand hing ein mannshoher Spiegel. An einer anderen das Plakat eines mexikanischen Films aus den fünfziger Jahren, gerahmt und hinter Glas. Charly Cruz sagte, es sei das Originalplakat eines sehr seltenen Films, von dem fast keine Kopien mehr erhalten seien. Eine gläserne Anrichte verwahrte die alkoholischen Getränke. In einem offenbar ungenutzten Raum, der an das Wohnzimmer grenzte, standen eine brandneue Musikanlage und ein Karton mit CDs. Rosa Méndez hockte sich neben den Karton und wühlte darin herum.
»Frauen sind verrückt nach Musik«, sagte Charly Cruz ihm ins Ohr, »ich bin verrückt nach Filmen.«
Die Nähe von Charly Cruz erschreckte ihn. Erst in diesem Moment wurde ihm bewusst, dass der Raum keine Fenster hatte, und er fand es seltsam, dass jemand sich gerade ihn als Wohnzimmer aussuchen konnte, wo das Haus doch groß und an helleren Zimmern sicher kein Mangel war. Als die erste Musik erklang, nahmen Corona und Chucho Flores die Mädchen beim Arm und verließen das Wohnzimmer. Der Schnurrbärtige setzte sich in einen Sessel und schaute auf die Uhr. Charly Cruz fragte Fate, ob er nicht Lust hätte, den Film von Robert Rodríguez zu sehen. Fate nickte. Der Schnurrbärtige konnte den Film wegen der Position seines Sessels nicht sehen, ohne sich den Hals zu verrenken, tatsächlich schien er aber auch gar kein Interesse daran zu haben. Er saß still da, schaute in die Runde und hin und wieder zur Decke.
Charly Cruz zufolge dauerte der Film nicht länger als eine halbe Stunde. Man sah das Gesicht einer alten, stark geschminkten Frau, die in die Kamera schaute und nach einer Weile unverständliche Dinge murmelte und zu weinen begann. Sie sah aus wie eine Hure im Ruhestand, manchmal wie eine, die im Sterben lag, dachte Fate. Danach erschien eine junge Frau, schlank, mit dunkler Haut und großen Brüsten, die auf einer Bettkante saß und sich auszog. Aus dem Dunkel tauchten drei Männer auf, die ihr erst etwas ins Ohr flüsterten und sie dann vögelten. Anfangs leistete die Frau Widerstand. Sie schaute direkt in die Kamera und sagte etwas auf Spanisch, das Fate nicht verstand. Danach täuschte sie einen Orgasmus vor und begann zu schreien. Die drei Kerle, die sie bislang abwechselnd bestiegen hatten, nahmen sie daraufhin zu dritt, wobei der erste vaginal in sie eindrang, der zweite anal und der dritte ihr seinen Schwanz in den Mund schob. Das Bild, das sie boten, erinnerte an ein Perpetuum mobile. Der Betrachter ahnte, dass dieses Perpetuum mobile irgendwann bersten musste, aber wann das geschehen würde und wie, hätte man nicht sagen können. Und dann kam die Frau wirklich. Ein Orgasmus, der nicht vorgesehen war und den am allerwenigsten sie selbst erwartet hatte. Ihre durch das Gewicht der Männer gezügelten Bewegungen beschleunigten sich. Ihre Augen, starr in die Kamera gerichtet, die ihrerseits ihr Gesicht heranzoomte, sagten etwas in einer unbekannten Sprache. Für einen Moment schien ihr ganzer Körper zu leuchten, ihre Brüste schimmerten, ebenso ihr Kinn, halbverdeckt von der Schulter eines der Kerle, und ihre Zähne erstrahlten in übernatürlichem Weiß. Dann schien ihr Fleisch sich von den Knochen zu lösen und auf den Boden des namenlosen Bordells zu fallen oder sich in Luft aufzulösen, und zurück blieb ein blitzblankes Skelett, ohne Augen, ohne Lippen, ein Totenschädel, der plötzlich lauthals über alles lachte. Dann kam die Straße einer mexikanischen Großstadt ins Bild, höchstwahrscheinlich DF, überspült vom Regen, parkende Autos zu beiden Seiten, Läden mit heruntergelassenen Metalljalousien, Passanten in eiliger Flucht vor der Nässe. Eine Regenpfütze. Strömendes Wasser, das eine dicke Staubschicht von einer Autokarosserie wusch. Erleuchtete
Weitere Kostenlose Bücher