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anzustoßen. Er lehnte ab. Vom Büro der Kriminalabteilung aus, wo außer ihm niemand war, hörte er, wie im Stockwerk über ihm ein ums andere Mal Las Mañanitas angestimmt wurde. Er erstellte eine Liste von Polizisten, die er als Mitarbeiter haben wollte. Er schrieb einen Bericht für die Kriminalpolizei von Hermosillo, dann verließ er das Büro, um sich am Kaffeeautomaten einen Kaffee zu holen. Er sah zwei Streifenpolizisten Arm in Arm die Treppe herunterkommen und folgte ihnen. Auf dem Flur sah er Polizisten in Gruppen von zwei, drei oder vier Mann zusammenstehen und plaudern. Ab und zu brach eine der Gruppen in schallendes Gelächter aus. Ein Typ in Jeans, ansonsten aber ganz in Weiß, schob eine Bahre herein. Auf der Bahre, die vollständig mit einer grauen Plastikplane bedeckt war, kam der Leichnam von Emilia Mena Mena herein. Niemand beachtete ihn.
Emilia Mena Mena starb im Juni. Ihre Leiche fand man auf der illegalen Müllkippe nahe der Calle Yucatecos auf dem Weg zur Ziegelei Hermanos Corinto. Das gerichtsmedizinische Gutachten vermerkt, dass sie vergewaltigt, erstochen und verbrannt wurde, aber nicht, ob die Messerstiche oder die Verbrennungen ihren Tod verursacht hatten, auch nicht, ob Emilia Mena Mena schon tot war, als man anfing, sie zu verbrennen. Auf der Müllhalde, wo man sie fand, brachen ständig Brände aus, die meisten vorsätzlich, einige zufällig, weshalb nicht auszuschließen war, dass die Verbrennungen an ihrem Körper auf ein derartiges Feuer zurückgingen und nicht auf eine Mordabsicht. Die Müllhalde hat offiziell keinen Namen, da sie illegal ist, aber im Volksmund heißt sie El Chile. Tagsüber sieht man in El Chile keine Menschenseele, auch nicht auf dem umliegenden Ödland, das die Müllhalde schon bald verschlingen wird. Nachts kommen diejenigen zum Vorschein, die nichts oder weniger als nichts besitzen. In Mexico DF nennt man solche Leute Teporochos, aber ein Teporocho ist ein manierlicher Schnorrer, ein nachdenklicher und verschmitzter Zyniker im Vergleich zu den menschlichen Wesen, die einzeln oder paarweise in El Chile herumwimmeln. Es sind nicht viele. Sie sprechen ein schwer verständliches Kauderwelsch. Die Polizei hatte in der Nacht nach dem Fund der Leiche von Emilia Mena Mena eine Razzia durchgeführt, aber lediglich drei Kinder aufgegriffen, die im Müll nach Kartons wühlten. Die nächtlichen Bewohner von El Chile machen sich rar. Ihre Lebenserwartung ist gering. Sie sterben spätestens nach sieben Monaten des Herumstreunens auf der Müllhalde. Über ihre Ernährungsweise und ihr Sexualleben ist nichts bekannt. Vermutlich haben sie Nahrung und Paarung vergessen. Oder Nahrung und Sex sind für sie bereits etwas anderes, unerreichbar, unaussprechlich, etwas jenseits von Handeln und Sprechen. Ausnahmslos alle sind krank. Einem Toten von El Chile die Kleider auszuziehen heißt so viel wie ihn zu häuten. Ihre Population bleibt konstant. Es sind nie weniger als drei und nie mehr als zwanzig.
Der Hauptverdächtige für den Mord an Emilia Mena Mena war ihr Freund. Als man ihn in der Wohnung suchte, wo er mit seinen Eltern und drei Geschwistern lebte, war er bereits auf und davon. Die Familie sagte, er sei ein oder zwei Tage, bevor man die Leiche fand, mit dem Bus weggefahren. Der Vater und zwei Brüder verbrachten einige Tage im Gefängnis, aber ihnen war keine brauchbare Information zu entlocken, außer der Adresse eines Bruders des Vaters in Ciudad Guzmán, zu dem der Verdächtige möglicherweise fahren wollte. Die Polizei von Ciudad Guzmán wurde alarmiert und schickte einige mit allen Vollmachten ausgestattete Polizisten zu der besagten Adresse, aber von Emilia Mena Menas Freund und mutmaßlichem Mörder keine Spur. Der Fall blieb ungelöst und geriet bald in Vergessenheit. Fünf Tage nach dem Mord, als die Ermittlungen noch im Gang waren, fand der Hausmeister der Morelos-Oberschule die Leiche einer weiteren Frau. Sie lag auf einem Gelände, das die Schüler gelegentlich als Fußball- oder Baseballfeld nutzten, eine Brachfläche, von der aus man Arizona und, auf mexikanischer Seite, die Hallendächer der Maquiladoras sehen konnte, außerdem die Pistenstraßen, die Letztere mit dem Netz asphaltierter Straßen verbanden. Zu beiden Seiten befanden sich, durch Zäune getrennt, die Schulhöfe und dahinter die beiden jeweils zweistöckigen Gebäude, wo in geräumigen und sonnigen Klassenzimmern der Unterricht stattfand. Die Oberschule hatte 1990 den Schulbetrieb aufgenommen,
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