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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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und der Hausmeister arbeitete dort vom ersten Tag an. Er war morgens der Erste, der kam, und abends einer der Letzten, die gingen. An dem Morgen, da man die Tote fand, hatte ihn etwas irritiert, als er im Büro des Direktors die Schlüssel für sämtliche Türen in der Schule holte. Zuerst kam er nicht darauf, was es war. Als er die Toilettenräume betrat, wurde es ihm klar. Zopilotes. Über der Brache neben dem Schulhof kreisten Zopilotes. Er hatte jedoch noch viel zu tun und beschloss, sich später darum zu kümmern. Kurz darauf kamen die Köchin und die Küchenhilfe, und er ging auf einen Kaffee mit ihnen in die Küche. Zehn Minuten lang sprachen sie über dies und das, bis der Hausmeister sie fragte, ob sie nicht bei ihrem Eintreffen Zopilotes gesehen hätten, die über der Schule kreisten. Beide verneinten. Daraufhin trank der Hausmeister seinen Kaffee aus und sagte, er werde sich einmal auf der Brache umschauen. Er befürchte, dass ein toter Hund dort herumlag. Wenn er recht behielt, würde er zurück in die Schule gehen, würde aus dem Werkzeugschuppen einen Spaten holen, wieder umkehren und auf der Brache ein Loch graben, tief genug, damit die Schüler das Tier nicht wieder ausgruben. Was er aber fand, war eine Frau. Sie trug eine schwarze Bluse und schwarze Pantoffeln, ihr Rock war bis zum Bauch hochgeschoben. Sie trug kein Höschen. Das fiel ihm als Erstes auf. Dann schaute er in ihr Gesicht und wusste, dass sie nicht erst seit vergangener Nacht tot war. Einer der Zopilotes landete auf dem Zaun, aber er verscheuchte ihn mit einer Armbewegung. Die Frau hatte langes schwarzes Haar, das mindestens den halben Rücken bedeckte. In einigen Strähnen klebte geronnenes Blut. Auch Bauch und Genitalbereich zeigten getrocknete Blutspuren. Er bekreuzigte sich zweimal und stand langsam auf. Zurück in der Schule, erzählte er der Köchin von dem Vorfall. Der Junge, der ihr zur Hand ging, spülte gerade einen Topf, und der Hausmeister senkte seine Stimme, damit er ihn nicht hörte. Von seinem Büro aus rief er den Direktor an, der aber bereits das Haus verlassen hatte. Er ging mit einer Decke los und breitete sie über die Tote. Erst da bemerkte er, dass man sie gepfählt hatte. Auf dem Weg zurück zur Schule füllten sich seine Augen mit Tränen. Als er ankam, saß die Köchin im Hof und rauchte. Sie machte eine Miene, als wollte sie fragen, was los sei. Er antwortete mit einer Miene, die nicht zu deuten war, und ging zum Haupteingang, um dort auf den Direktor zu warten. Als er eintraf, liefen sie zusammen über die Brache. Vom Hof aus sah die Köchin, wie der Direktor die Decke zur Seite schlug und von verschiedenen Seiten den kaum zu erkennenden Körper betrachtete. Kurz darauf gesellten sich zwei Lehrer und, in rund zehn Metern Entfernung, eine Gruppe von Schülern hinzu. Um zwölf Uhr fuhren zwei Streifenwagen, ein ziviles Polizeifahrzeug und ein Krankenwagen vor und nahmen die Tote mit. Ihr Name wurde nie ermittelt. Der Gerichtsmediziner vermerkte, dass sie seit mehreren Tagen tot war, ohne einen genauen Zeitpunkt zu nennen. Ursächlich für den Tod waren höchstwahrscheinlich die Messerstiche im Brustbereich, es wurde jedoch auch eine Schädelfraktur festgestellt, die der Gerichtsmediziner als primäre Todesursache nicht ausschließen wollte. Das Alter der Toten lag irgendwo zwischen dreiundzwanzig und fünfunddreißig. Ihre Größe betrug ein Meter zweiundsiebzig.
    Die letzte Tote vom Juni 1993 hieß Margarita López Santos und war vor mehr als vierzig Tagen verschwunden. Am zweiten Tag nach ihrem Verschwinden hatte ihre Mutter Anzeige beim Zweiten Kommissariat erstattet. Margarita López arbeitete in der Maquiladora K&T im Industriepark El Progreso, in der Nähe der Hauptstraße nach Nogales und der letzten Häuser der Siedlung Guadalupe Victoria. Am Tag ihres Verschwindens war sie für die dritte Schicht von neun Uhr abends bis fünf Uhr früh eingeteilt. Ihren Kolleginnen zufolge war sie wie immer pünktlich zur Arbeit erschienen - Margarita galt als außergewöhnlich zuverlässig und pflichtbewusst, weshalb ihr Verschwinden in die Zeit nach dem Schichtwechsel und dem Verlassen der Fabrik fallen muss. Um diese Zeit jedoch bekam niemand etwas mit, schon weil es um fünf oder halb sechs noch dunkel ist und es so gut wie keine Straßenlaternen gibt. Die wenigsten Häuser im Norden von Guadalupe Victoria besitzen elektrisches Licht. Die Ausgänge des Industrieparks sind mit Ausnahme der Verbindung zur Hauptstraße

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