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gewaltsame Tod einer Frau im Jahr 1993 datiert vom zwanzigsten Dezember. Die Tote war fünfzig Jahre alt, und wie um ersten zaghaften Stimmen entgegenzutreten, starb sie nicht auf einer Brache, nicht auf einer Müllhalde, nicht zwischen gelblichen Wüstensträuchern, sondern in ihrer Wohnung und wurde dort auch gefunden. Sie hieß Felicidad Jiménez Jiménez und arbeitete in der Maquiladora Multizone West. Die Nachbarn fanden sie auf dem Fußboden ihres Schlafzimmers. Sie war von der Hüfte abwärts nackt, und ein Stück Holz stak in ihrer Scheide. Todesursache waren die zahlreichen Messerstiche, mehr als sechzig zählte der Gerichtsmediziner, die Ernesto Luis Castillo Jiménez, ihr eigener Sohn, ihr beigebracht hatte. Nach Aussage der Nachbarn litt der Junge unter Anfällen von Wahnsinn, die entsprechend der finanziellen Situation der Familie mit Anxiolytika oder stärkeren Beruhigungsmitteln behandelt wurden. Noch in derselben Nacht, Stunden nach der makabren Entdeckung, griff die Polizei den Muttermörder auf, während er durch die finsteren Straßen der Siedlung Morelos irrte. In seinem Geständnis gab er freimütig zu, seine Mutter ermordet zu haben. Er gab auch zu, der Büßer, der Kirchenschänder zu sein. Auf die Frage, was ihn veranlasst habe, seiner Mutter das Stück Holz in die Scheide zu stecken, antwortete er zunächst, er wisse es nicht, und sagte nach genauerem Nachdenken, er habe es getan, damit sie es lerne. Damit sie was lerne?, fragten die Polizisten, unter denen sich Pedro Negrete, Epifanio Galindo, Ángel Fernandez, Juan de Dios Martínez und José Márquez befanden. Damit sie lerne, dass mit ihm nicht zu spaßen sei. Danach wurden seine Äußerungen unzusammenhängend, und man brachte ihn ins städtische Krankenhaus. Felicidad Jiménez Jiménez hatte noch einen älteren Sohn, der in die Vereinigten Staaten ausgewandert war. Die Polizei versuchte, mit ihm Kontakt aufzunehmen, aber niemand war in der Lage, ihnen eine verlässliche Adresse zu geben, die man hätte anschreiben können. Bei der späteren Hausdurchsuchung wurden keinerlei Briefe oder persönliche Habseligkeiten gefunden, die dieser Sohn bei seinem Auszug zurückgelassen hatte oder die seine Existenz beglaubigen konnten. Nur zwei Fotos: Auf dem einen sieht man Felicidad mit zwei Kindern zwischen zehn und dreizehn, die sehr ernst in die Kamera blicken. Auf dem anderen, älteren Bild sieht man dieselbe Felicidad mit zwei Kindern, das eine wenige Monate alt (der Sohn, der sie Jahre später umbringen sollte und zu ihr aufschaut), das andere ungefähr drei Jahre alt (der Sohn, der in die Vereinigten Staaten emigriert war und nie mehr nach Santa Teresa zurückkehrte). Nach der Rückkehr aus der psychiatrischen Station des Krankenhauses wurde Ernesto Luis Castillo Jiménez ins Gefängnis von Santa Teresa überstellt, wo er sich als ausgesprochen redselig entpuppte. Er wollte nicht allein sein und verlangte ständig nach der Anwesenheit von Polizeibeamten oder Journalisten. Die Polizisten versuchten, ihm andere ungelöste Fälle unterzuschieben. Die günstige Veranlagung des Verhafteten lud dazu ein. Juan de Dios Martínez versicherte, dass Castillo Jiménez nicht der Büßer sei, dass er außer seiner Mutter wahrscheinlich niemanden umgebracht habe und dass er nicht einmal dafür verantwortlich sei, weil er deutliche Symptome geistiger Verwirrung zeige. Das war der letzte Mord an einer Frau im Jahr 1993, dem Jahr, in dem in diesem Teil der mexikanischen Republik die Frauenmorde ihren Anfang nahmen, zu der Zeit, als José Andrés Briceño von der Partei der Nationalen Aktion (PAN) der Gouverneur des Bundesstaates Sonora war und José Refugio de las Heras von der Partei der Institutionellen Revolution (PRI) der Oberbürgermeister von Santa Teresa, fähige, aufrechte Männer, die brav ihren Job machten, ohne Angst vor Repressalien, immer auf Unerfreuliches gefasst.
Bevor das Jahr 1993 zu Ende ging, kam es jedoch noch zu einem weiteren bedauernswerten Zwischenfall, der mit den Frauenmorden nichts zu tun hatte, sofern man annimmt, dass zwischen ihnen ein Zusammenhang bestand, was erst noch zu beweisen war. Damals kümmerten sich Lalo Cura und seine beiden zwielichtigen Kollegen Tag für Tag um den Schutz der Frau von Pedro Rengifo, den Lalo erst einmal von weitem gesehen hatte. Dafür kannte er aber bereits mehrere der Leibwächter, die auf dessen Gehaltsliste standen. Einige von ihnen schienen ihm interessant. Pat O'Bannion zum Beispiel. Oder
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