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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Nachdenken.
    Espinoza akzeptierte Nortons Erklärungen ohne weitere Fragen. Pelletier dagegen hätte gern von ihr gewusst, ob ihr Exmann etwas mit dieser Entscheidung zu tun hatte, doch Espinozas Beispiel vor Augen, sagte er lieber nichts. Nach dem Essen machten sie in Nortons Wagen eine Tour durch London. Pelletier bestand darauf, hinten zu sitzen, bis er ein sarkastisches Funkeln in Nortons Augen bemerkte und einwilligte, dort zu sitzen, wo er gerade saß, was nirgendwo anders war als auf dem Rücksitz.
    Während sie durch die Cromwell Road fuhr, sagte Norton, dass sie heute Nacht eigentlich mit beiden ins Bett gehen müsste. Espinoza lachte und sagte etwas, das witzig zu sein versuchte und den Scherz fortsetzen sollte, aber Pelletier war sich nicht sicher, ob Norton scherzte, noch weniger sicher war er sich, ob er darauf vorbereitet war, in einer ménage à trois mitzumischen. Dann fuhren sie nach Kensington Gardens, um bei der Peter-Pan-Statue den Sonnenuntergang abzuwarten. Sie setzten sich auf eine Bank neben einer großen Steineiche, Nortons Lieblingsplatz, zu dem sie sich seit ihrer Kindheit hingezogen fühlte. Erst sahen sie einige Leute auf dem Rasen liegen, aber nach und nach wurde es leer um sie herum. Paare kamen vorbei oder einzelne Frauen, die, recht elegant gekleidet, eilig der Serpentine Gallery oder dem Albert Memorial zustrebten und denen Männer mit zerknitterten Zeitungen oder Mütter entgegenkamen, die ihre Kinderwagen in Richtung Bayswater Road schoben.
    Als die Schatten länger wurden, sahen sie ein junges Pärchen, das sich auf Spanisch unterhielt und auf die Peter-Pan-Statue zuging. Die Frau hatte schwarzes Haar und war sehr hübsch und streckte die Hand aus, als wollte sie das Bein von Peter Pan berühren. Ihr Begleiter war ein großer, vollbärtiger Typ, der ein Notizbuch aus der Tasche zog und etwas aufschrieb. Dann sagte er laut:
    »Kensington Gardens.«
    Die Frau betrachtete schon nicht mehr die Statue, sondern den See oder vielmehr etwas, das sich zwischen der Grasfläche und dem Dickicht bewegte, die den schmalen Weg vom See trennten.
    »Was sieht sie da?«, fragte Norton auf Deutsch.
    »Eine Schlange, wie es scheint«, sagte Espinoza.
    »Hier gibt es keine Schlangen!«, sagte Norton.
    Jetzt rief die Frau ihren Begleiter: Rodrigo, schau dir das an! Der junge Mann schien sie nicht zu hören. Er hatte das Notizbuch in eine Tasche seiner Lederjacke gesteckt und betrachtete schweigend die Statue von Peter Pan. Die Frau bückte sich, und zwischen den Gräsern kroch etwas in Richtung See.
    »Nun, es scheint tatsächlich eine Schlange zu sein«, sagte Pelletier.
    »Habe ich ja gesagt«, sagte Espinoza.
    Norton antwortete nicht, stand aber auf, um besser zu sehen.
    Pelletier und Espinoza schliefen in jener Nacht in Nortons Wohnzimmer nur wenige Stunden. Obwohl sie das Schlafsofa und den Teppich zur Verfügung hatten, konnten sie beim besten Willen keinen Schlaf finden. Pelletier versuchte zu reden und Espinoza das mit dem Flugzeugunglück zu erklären, aber Espinoza sagte, er brauche ihm nichts zu erklären, er habe schon alles verstanden.
    Um vier Uhr morgens verständigten sie sich darauf, Licht zu machen, um zu lesen. Pelletier griff sich ein Buch über das Werk von Berthe Morisot, der ersten Frau im Kreis der Impressionisten, aber schon nach kurzer Zeit hätte er es am liebsten an die Wand geworfen. Espinoza dagegen zog aus seiner Reisetasche Archimboldis zuletzt veröffentlichten Roman Der Kopf und begann die Anmerkungen durchzugehen, die er an den Rand geschrieben hatte und die die Keimzelle eines Aufsatzes bildeten, den er in der von Borchmeyer herausgegebenen Zeitschrift zu veröffentlichen gedachte.
    Espinoza vertrat die Ansicht (die er mit Pelletier teilte), Archimboldi habe mit dem Roman einen Schlussstrich unter sein literarisches Abenteuer gezogen. Nach dem Kopf wird kein neuer Archimboldi mehr auf den Markt kommen, sagte Espinoza, eine These, die ein anderer berühmter Archimboldianer für zu gewagt hielt, da sie nur auf dem Alter des Schriftstellers fußte, zumal sie auch schon nach der Veröffentlichung der Vollkommenheit der Schiene die Runde gemacht hatte. Einige Berliner Professoren waren sogar schon beim Erscheinen von Bitzius damit vorgeprescht. Um fünf Uhr morgens ging Pelletier unter die Dusche, dann kochte er Kaffee. Um sechs schlief Espinoza noch einmal ein, wachte aber um halb sieben mit einer fürchterlichen Laune wieder auf. Um Viertel vor sieben riefen sie ein

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