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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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wurde Pelletier schon bald zu bunt, und er wechselte das Thema. Daraufhin begann Norton von Archimboldi zu reden. Das neue Gesprächsthema machte Pelletier fast verrückt. Er dachte wieder an den Serben, dachte wieder an den armen alten einsamen und wahrscheinlich misanthropischen Schriftsteller (Archimboldi), dachte wieder an die verlorenen Jahre seines Lebens, bevor Norton in selbiges getreten war.
    Espinoza verspätete sich. Das Leben ist doch ein Scheißspiel, dachte Pelletier erstaunt. Und weiter: Wenn wir kein Team gebildet hätten, würde sie jetzt mir gehören. Und weiter: Wenn es keine Zuneigung, keine Freundschaft, keine Seelenverwandtschaft, kein Bündnis gegeben hätte, würde sie jetzt mir gehören. Und kurz darauf: Wenn es das alles nicht gegeben hätte, hätte ich sie nicht einmal kennengelernt. Und: Möglich, dass ich sie doch kennengelernt hätte, schließlich ist unser Archimboldi-Interesse unabhängig vom anderen und nicht im Rahmen unserer Freundschaft entstanden. Und: Möglich, dass sie mich gehasst hätte, dass sie mich für zu spießig, zu unterkühlt, zu arrogant, zu narzisstisch und für einen exklusiven Intellektuellen gehalten hätte. Der Ausdruck exklusiver Intellektueller amüsierte ihn. Espinoza verspätete sich. Norton wirkte völlig ruhig. Auch Pelletier wirkte völlig ruhig, war es aber ganz und gar nicht.
    Norton sagte, es sei nichts dabei, wenn Espinoza zu spät komme. Flugzeuge haben oft Verspätung, sagte sie. Pelletier sah das brennende Flugzeug von Espinoza vor sich, das auf einer Landebahn des Madrider Flughafens in einem ohrenbetäubenden Stahlgewitter zerschellte.
    »Vielleicht sollten wir den Fernseher anmachen«, sagte er.
    Norton sah ihn an und lächelte. Ich mache den Fernseher nie an, sagte sie lächelnd und wunderte sich, dass Pelletier das noch immer nicht wusste. Natürlich wusste Pelletier das. Aber er hatte nicht die Geistesgegenwart besessen, zu sagen: Lass uns die Nachrichten schauen, lass uns schauen, ob nicht von einem Flugzeugabsturz berichtet wird.
    »Kann ich ihn anmachen?«, fragte er.
    »Sicher«, sagte Norton, und während Pelletier sich über die Knöpfe des Geräts beugte, sah er aus einem Augenwinkel zu ihr hinüber, wie sie, heiter und ungezwungen, eine Tasse Tee zubereitete oder von einem Zimmer ins andere ging, ein Buch, das sie ihm eben gezeigt hatte, an seinen Platz stellte, einen Anruf entgegennahm, der nicht von Espinoza kam.
    Er schaltete den Fernseher ein. Er wechselte durch mehrere Kanäle. Er sah einen bärtigen, ärmlich gekleideten Mann. Er sah eine Gruppe von Schwarzen eine Lehmpiste entlanggehen. Er sah zwei Herren in Schlips und Kragen, die bedächtig miteinander sprachen, die beide die Beine übereinandergeschlagen hatten, die beide von Zeit zu Zeit auf eine Landkarte sahen, die hinter ihnen auftauchte und wieder verschwand. Er hörte eine mollige Frau sagen: Tochter ... Fabrik ... Versammlung ... Ärzte ... unausweichlich ..., die dann etwas gequält lächelte und den Blick senkte. Er sah das Gesicht eines belgischen Ministers. Sah die Reste eines rauchenden Flugzeugs am Rand einer Landebahn, umgeben von Rettungswagen und Feuerwehr. Er rief laut Nortons Namen. Sie telefonierte noch immer.
    Espinozas Maschine ist abgestürzt, sagte Pelletier, diesmal ohne die Stimme zu erheben, und Norton sah statt des Fernsehers ihn an. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ihm klarwurde, dass das brennende Flugzeug kein spanisches Flugzeug war. Zwischen den Rettungsmannschaften und den Feuerwehrleuten konnte man Passagiere sich entfernen sehen, einige hinkend, andere in Decken gehüllt, Angst und Entsetzen im Blick, aber offenbar unverletzt.
    Zwanzig Minuten später kam Espinoza, und während des Essens erzählte Norton ihm, dass Pelletier geglaubt habe, er sei in dem verunglückten Flugzeug gewesen. Espinoza lachte, sah aber Pelletier ganz seltsam an, was Norton nicht auffiel, Pelletier jedoch sofort bemerkte. Es war im Übrigen ein tristes Essen, obwohl Norton sich völlig normal verhielt, als hätte sie die beiden zufällig getroffen und nicht extra zu sich nach London bestellt. Was sie ihnen mitzuteilen hatte, ahnten sie, noch bevor sie ein Wort sagte: Norton wollte die Liebesbeziehung, die sie mit jedem von ihnen unterhielt, zumindest für eine Weile aussetzen. Als Grund führte sie an, dass sie nachdenken und zu sich selbst finden müsse, und fügte hinzu, sie wolle mit beiden befreundet bleiben. Sie brauche nur etwas Zeit zum

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