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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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weiter herumzureiten, gerade jetzt, wo es ihm so gut ging. Aber wenn ich es nicht tue, werde ich sterben, sagte er sich und schlug den Katalog auf, der weniger ein Katalog als vielmehr ein Kunstband war und die gesamte berufliche Laufbahn von Johns abdeckte oder abzudecken versuchte, dessen Foto auf der ersten Seite prangte, ein vor seiner Selbstverstümmelung aufgenommenes Foto, das einen etwa fünfundzwanzigjährigen jungen Mann zeigte, der mit halbherzigem Lächeln direkt in die Kamera schaute, was Schüchternheit oder Spott verraten konnte. Er hatte dunkles, glattes Haar.
    »Ich schenke ihn dir«, hörte er Norton sagen.
    »Vielen Dank«, hörte er sich antworten.
    Eine Stunde später fuhren sie zusammen zum Flughafen, und eine weitere Stunde später flog Morini nach Italien.

In jener Zeit schrieb ein bis dato unbedeutender serbischer Literaturwissenschaftler, Germanistikprofessor an der Belgrader Universität, für die von Pelletier betreute Zeitschrift einen sonderbaren Artikel, der in gewisser Weise an die winzigen Trouvaillen erinnerte, die vor vielen Jahren ein französischer Kritiker über den Marquis de Sade in Druck gegeben hatte und die aus faksimilierten Zetteln bestanden, die den Besuch des göttlichen Marquis in einer Wäscherei bezeugen, aus den Aide-mémoire seiner Beziehung zu einem gewissen Theatermann, den Notizen eines Arztes mit den Namen der verschriebenen Medikamente, der Rechnung für ein Wams, auf der Knopfgarnitur und Farbe vermerkt sind, etc., dazu ein großer Anmerkungsapparat, der nur eine Schlussfolgerung zuließ: De Sade hat gelebt, de Sade hat seine Kleider waschen lassen, er hat sich neue Kleider gekauft und stand in Briefverkehr mit Menschen, die die Geschichte bereits gründlich untergepflügt hat.
    Der Text des Serben war ganz ähnlich. Nur dass hier die in Frage stehende Person nicht de Sade, sondern Archimboldi hieß; sein Artikel präsentierte eine minutiöse und manchmal frustrierende Spurensuche, die ihren Ausgang in Deutschland nahm und über Frankreich, die Schweiz, Italien, Griechenland und noch einmal Italien führte, um in einem Reisebüro in Palermo zu enden, wo Archimboldi anscheinend ein Flugticket nach Marokko gekauft hatte. Einen älteren deutschen Herrn nannte ihn der Serbe. Schwang wechselweise die Worte älterer Herr und deutsch wie Zauberstäbe, um ein Geheimnis zu lüften und zugleich ein Beispiel zu geben für eine ultrakonkrete, kritische Literatur, eine nicht spekulative Literatur ohne eigene Ideen, ohne Behauptungen oder Verneinungen, ohne Zweifel, ohne richtungsweisenden Anspruch, weder dafür noch dagegen, nur ein Auge, das nach greifbaren Details sucht und sie nicht bewertet, sondern kühl darlegt, Archäologie des Faksimilierten und also Archäologie der Kopiermaschine.
    Pelletier fand den Text interessant. Bevor er ihn abdruckte, schickte er Kopien davon an Espinoza, Morini und Norton. Espinoza sagte, das könne zu etwas führen, und obwohl diese Art zu forschen und zu schreiben in seinen Augen eine Arbeit für Archivratten, eine subalterne oder Beamtenarbeit war, glaube er, dass es gut sei, wie er sich ausdrückte, wenn die Archimboldi-Welle auch auf diese Sorte ideenloser Fanatiker zählen könne. Norton sagte, ihre - weibliche Intuition habe ihr schon immer gesagt, Archimboldi werde früher oder später irgendwo im Maghreb landen, und das einzig Interessante an dem Text des Serben sei das Ticket für eine italienische Maschine nach Rabat, das eine Woche vor Abflug auf den Namen Benno von Archimboldi reserviert wurde. Von nun an können wir ihn uns in irgendeiner Höhle des Atlasgebirges vorstellen, sagte sie. Morini dagegen sagte nichts.
    An dieser Stelle ist es nötig, zum besseren (oder schlechteren) Verständnis des Textes etwas klarzustellen. Es stimmt, dass eine Reservierung auf den Namen Benno von Archimboldi vorlag. Diese Reservierung wurde aber nicht wahrgenommen, und zum Zeitpunkt des Abflugs erschien kein Benno von Archimboldi am Flughafen. Für den Serben war die Sache sonnenklar. Archimboldi hatte die Reservierung in der Tat persönlich vorgenommen. Wir sehen ihn vor uns in seinem Hotel, wahrscheinlich über irgendetwas verärgert, vielleicht angetrunken, möglicherweise auch kurz vorm Einschlafen, in der versunkenen, ein gewisses ekelerregendes Arom verströmenden Stunde, in der die wirklich wichtigen Entscheidungen getroffen werden, wie er mit dem Fräulein von Alitalia spricht und aus Versehen seinen Nom de plume angibt, statt unter

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