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dass einer der beiden anrief, der andere zustimmte und sie sich eines Freitagnachmittags am Londoner Flughafen trafen, wo sie ein Taxi nahmen, das sie zunächst zu einem Hotel brachte, dann, als schon fast Abendessenszeit war (sie hatten vorab einen Tisch für drei im Jane & Chloe reserviert), ein weiteres Taxi, das sie zu Nortons Wohnung fuhr.
Vom Bordstein aus schauten sie, nachdem sie den Taxifahrer bezahlt hatten, zu den erleuchteten Fenstern hinauf. Und als das Taxi sich entfernte, sahen sie den Schatten von Liz, den geliebten Schatten, und dann, als würde ein Schwall stinkender Luft in eine Damenbindenwerbung fahren, den Schatten eines Mannes, der sie erstarren ließ, Espinoza mit einem Blumenstrauß in der Hand, Pelletier mit einem in feinstes Geschenkpapier eingeschlagenen Buch von Sir Jacob Epstein. Aber das chinesische Schattentheater war noch nicht beendet. In einem Fenster bewegte Norton die Arme, als versuchte sie etwas zu erklären, das ihr Gesprächspartner nicht verstehen wollte. In dem anderen Fenster machte der Schatten des Mannes - zum Entsetzen seiner beiden einzigen, Maulaffen feilhaltenden Zuschauer eine Hula-Hoop-Bewegung oder etwas, das Pelletier und Espinoza wie eine Hula-Hoop-Bewegung vorkam, zuerst mit den Hüften, dann mit den Beinen, dem Oberkörper und sogar mit dem Hals, eine Bewegung, die Sarkasmus und Spott erahnen ließ, sofern der Mann hinter dem Vorhang sich nicht entkleidete oder dahinschmolz, wonach es bestimmt nicht aussah, eine Bewegung oder richtiger eine Reihe von Bewegungen, die nicht nur Sarkasmus verriet, sondern auch Bosheit, unverhohlene Selbstsicherheit, dass in der Wohnung er der stärkste, der größte und der muskulöseste war und Hula-Hoop spielen konnte.
Etwas an der Haltung von Nortons Schatten irritierte sie. Soweit sie sie kannten, und sie glaubten, sie gut zu kennen, war Liz niemand, die Frechheiten duldete, schon gar nicht in ihrer eigenen Wohnung. Das Wahrscheinlichste war wohl, schlossen sie, dass der Schatten des Mannes doch nicht Hula-Hoop spielte oder Liz beschimpfte, sondern lachte, und zwar nicht über sie, sondern mit ihr. Aber Nortons Schatten schien nicht zu lachen. Und dann verschwand der Schatten des Mannes: Vielleicht schaute er sich Bücher im Regal an oder war ins Bad oder in die Küche gegangen. Vielleicht hatte er sich aufs Sofa fallenlassen und lachte noch immer. Im nächsten Moment näherte sich Liz' Schatten dem Fenster, schien zu schrumpfen, schob den Vorhang zur Seite und öffnete mit geschlossenen Augen das Fenster, als verlange es sie danach, die nächtliche Londoner Luft zu atmen, und dann öffnete sie die Augen, schaute hinunter, in den Abgrund, und sah sie.
Sie grüßten Norton, als wären sie eben aus dem Taxi gestiegen. Espinoza schwenkte seinen Blumenstrauß und Pelletier sein Buch, dann gingen sie, ohne länger in ihr verdutztes Gesicht zu schauen, zum Hauseingang und warteten darauf, dass Liz den Türöffner betätigte.
Sie glaubten alles verloren. Während sie wortlos die Treppe hinaufstiegen, hörten sie, wie eine Tür sich öffnete, und obwohl sie sie nicht sahen, spürten sie förmlich Nortons heitere Anwesenheit auf dem Treppenabsatz. Die Wohnung roch nach holländischem Tabak. An den Türrahmen gelehnt, sah Norton sie an wie zwei seit langem tote Freunde, die als Gespenster aus dem Meer zurück gekrochen kamen. Der Mann, der sie im Wohnzimmer erwartete, war jünger als sie, geboren wahrscheinlich in den Siebzigern, Mitte der Siebziger, keinesfalls in den Sechzigern. Er trug einen Pullover mit Rollkragen, mit ausgeleiertem Rollkragen allerdings, dazu ausgewaschene Bluejeans und Sportschuhe. Er wirkte wie einer von Nortons Studenten oder wie ein Lehrbeauftragter.
Norton sagte, das sei Alex Pritchard. Ein Freund. Pelletier und Espinoza reichten ihm die Hand und lächelten, ein klägliches Lächeln, wie sogar ihnen selbst bewusst war. Pritchard dagegen lächelte nicht. Kurz darauf saßen sie im Wohnzimmer, tranken Whisky und sagten kein Wort. Pritchard, der Orangensaft trank, setzte sich neben Norton und legte ihr seinen Arm um die Schulter, eine Geste, der die Engländerin zunächst keine Bedeutung schenkte (tatsächlich ruhte Pritchards ausgestreckter Arm auf der Rückenlehne des Sofas, und nur seine Finger, lang und dünn wie Spinnenbeine oder Pianistenfinger, berührten dann und wann Nortons Bluse), aber mit der Zeit wurde Norton immer nervöser und ihre Ausflüge in die Küche oder in ihr Schlafzimmer immer
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