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auf dem Papier entsteht. Seine Frau beobachtet ihn, ohne dass er es weiß. Eindeutig ist er es, der schreibt. Aber besäße seine Frau einen Röntgenblick, würde sie erkennen, dass sie eigentlich keinem literarischen Schaffensprozess beiwohnt, sondern eher einer hypnotischen Sitzung. Im Innern des Mannes, der dort sitzt und schreibt, ist nichts. Nichts, was er selbst wäre, meine ich. Der arme Mann täte wahrlich besser daran, sich ganz dem Lesen zu widmen. Lesen ist die Lust und Freude, am Leben zu sein, die Traurigkeit, am Leben zu sein, und vor allem Fragen und Erkenntnis. Das Schreiben dagegen ist gewöhnlich leer. In den Eingeweiden eines Menschen, der schreibt, ist nichts. Ich meine, nichts, was seine Frau in einem bestimmten Moment erkennen könnte. Er schreibt nach Diktat. Sein biederbraver Roman oder Gedichtband entspringt keiner stilistischen oder Willensanstrengung, wie der arme Pechvogel glaubt, sondern einer Anstrengung des Verbergens. Es ist erforderlich, dass es viele Bücher gibt, viele wunderbare Kiefern, damit sie das eine Buch vor falschen Blicken schützen, das wirklich wichtig ist, die verfluchte Grotte unseres Unglücks, die Zauberblume des Winters!
Entschuldigen Sie die Metaphern. Manchmal packt es mich und ich werde romantisch. Aber hören Sie. Jedes Werk, das kein Meisterwerk ist, wie soll ich sagen, ist Teil einer breit angelegten Tarnung. Sie waren Soldat, nehme ich an, und werden wissen, wovon ich rede. Jedes Buch, das kein Meisterwerk ist, ist Kanonenfutter, Himmelfahrtskommando, Opfermasse, insofern es auf vielfältige Weise das Muster des Meisterwerks reproduziert. Als mir diese Wahrheit klarwurde, hörte ich auf zu schreiben. Mein Verstand jedoch funktionierte weiter. Mehr noch, er funktionierte besser, seit ich nicht mehr schrieb. Ich fragte mich: Warum muss ein Meisterwerk verborgen sein, welche seltsamen Kräfte zerren es ins Geheime und Rätselhafte?
Ich wusste bereits, dass Schreiben sinnlos war. Oder nur dann der Mühe wert, wenn man imstande wäre, ein Meisterwerk zu schreiben. Die meisten Schriftsteller täuschen sich oder spielen. Vielleicht sind Selbsttäuschung und Spiel ein und dasselbe, zwei Seiten einer Medaille. In Wirklichkeit bleiben wir ein Leben lang Kinder, monströse Kinder mit allerlei Wehwehchen und Krampfadern und Geschwüren und fleckiger Haut, aber letztlich doch Kinder, das heißt, wir hören nie auf, uns ans Leben zu klammern, denn wir sind Leben. Man könnte auch sagen: Wir sind Theater, wir sind Musik. Genauso gibt es nur wenige Schriftsteller, die entsagen. Wir spielen, um uns für unsterblich zu halten. Wir täuschen uns in unserem Urteil über unsere eigenen Werke und im stets ungenauen Urteil über die Werke der anderen. Wir sehen uns dann beim Nobelpreis, sagen die Schriftsteller, so wie man sagt: Wir sehen uns in der Hölle.
Ich habe einmal einen amerikanischen Gangsterfilm gesehen. In einer Szene tötet ein Detektiv einen Verbrecher, und bevor er die tödliche Kugel abfeuert, sagt er zu ihm: Wir sehen uns in der Hölle. Er spielt. Der Detektiv spielt und täuscht sich. Der Verbrecher, der ihn kurz bevor er stirbt ansieht und beleidigt, spielt und täuscht sich ebenfalls, obwohl sein Spielfeld und das Feld seiner Selbsttäuschung fast auf Stecknadelkopfgröße geschrumpft sind, weil er in der nächsten Einstellung sterben wird. Auch der Regisseur spielt. Der Drehbuchautor ebenfalls. Wir sehen uns beim Nobelpreis. Wir haben Geschichte geschrieben. Das deutsche Volk ist uns dankbar. Eine heldenhafte Schlacht, an die sich künftige Generationen erinnern werden. Eine unsterbliche Liebe. Ein in Marmor gemeißelter Name. Die Stunde der Musen. Sogar ein scheinbar so unschuldiger Satz wie Nachhall griechischer Prosa enthält nichts als Spiel und Selbsttäuschung.
Spiel und Selbsttäuschung sind die Augenbinde und die Triebkraft zweitklassiger Schriftsteller. Außerdem sind sie ihnen das Versprechen künftigen Glücks. Ein Wald, der sich in atemberaubender Geschwindigkeit ausbreitet, ein Wald, den niemand eindämmt, nicht einmal die Akademien, im Gegenteil, die Akademien sorgen dafür, dass er ungehindert wächst, die Theaterunternehmer und die Universitäten (Brutstätten für Müßiggänger) und die staatlichen Stellen und die Mäzene und die Kulturverbände und die Vortragskünstlerinnen, alle tragen sie dazu bei, dass der Wald wächst und verbirgt, was er verbergen muss, alle tragen sie dazu bei, dass der Wald reproduziert, was er reproduzieren muss,
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