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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Aufwartung gemacht hatte.
    In jener Zeit entwickelte ich ein sicher krankhaftes Interesse für derlei Einrichtungen, und mein Arzt-Freund war so freundlich, sie mir zu zeigen und in allen Einzelheiten zu erläutern; sogar an der letzten Autopsie des Tages nahmen wir teil. Anschließend verschwand mein Freund mit dem Dekan in dessen Büro, und ich blieb draußen auf dem Flur, wo ich auf ihn wartete, während die Studenten nach Hause gingen und eine dämmrige Müdigkeit wie giftiges Gas unter den Türen hervorkroch. Ich hatte etwa zehn Minuten gewartet, als mich ein Geräusch zusammenfahren ließ, das aus einem der Kühlräume kam. Das hätte in jener Zeit jeden erschreckt, das kann ich Ihnen versichern, aber ich war nie besonders feige und ging dem Geräusch nach.
    Als ich die Tür öffnete, schlug mir ein Schwall kalter Luft ins Gesicht. Am Ende des Raums stand neben einer Bahre ein Mann und versuchte, eines der Fächer zu öffnen, um eine Leiche hineinzulegen, aber sosehr er sich auch bemühte, das Fach oder die Schublade wollte sich nicht öffnen. Ich blieb an der Tür stehen und fragte, ob er Hilfe brauche. Der Mann richtete sich auf, er war sehr groß, und sah auf eine Weise zu mir herüber, die einen untröstlichen Eindruck auf mich machte. Vielleicht war es diese Trostlosigkeit in seinem Blick, die mich ermutigte, mich ihm zu nähern. Während ich an Leichen vorbei auf ihn zuging, steckte ich mir zur Beruhigung meiner Nerven eine Zigarette an, und das Erste, was ich tat, als ich vor ihm stand, ich bot ihm auch eine an, vielleicht um eine Komplizenschaft zu erzwingen, die es nicht gab.
    Erst jetzt sah mich der Pathologiemitarbeiter an, und ich kam mir vor wie auf einer Zeitreise. Seine Augen sahen exakt so aus wie die Augen des großen Schriftstellers, zu dessen Vorlesungen in Köln ich gepilgert war. Ich will Ihnen gestehen, dass ich sogar für ein paar Sekunden dachte, ich würde auf der Stelle verrückt werden. Die Stimme des Mannes, die keinerlei Ähnlichkeit mit der geliebten Stimme des großen Schriftstellers besaß, riss mich aus meiner Verlegenheit. Sie sagte: Hier ist Rauchen verboten.
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Er fügte hinzu: Der Rauch schadet den Toten. Ich lachte. Er verlegte sich aufs Erklären: Der Rauch schadet ihrer Haltbarkeit. Ich machte eine Geste, dass mich das nichts angehe. Er versuchte es ein letztes Mal: Er sprach von Filtern, sprach von Feuchtigkeit, benutzte das Wort Reinheit. Noch einmal bot ich ihm eine Zigarette an, und resigniert verkündete er, er sei Nichtraucher. Ich fragte ihn, ob er schon lange hier arbeite. In unpersönlichem Ton, mit einer leicht schrillen Stimme antwortete er, dass er schon lange vor dem Krieg 14/18 in der Universität gearbeitet habe.
    ›Immer in der Pathologie?‹, fragte ich.
    ›Eine andere Abteilung habe ich nicht kennengelernt‹, erwiderte er.
    ›Merkwürdig‹, sagte ich, ›aber Ihr Gesicht, vor allem Ihre Augen erinnern mich an die Augen eines großen deutschen Schriftstellers.‹ Und ich nannte seinen Namen.
    ›Der Name sagt mir gar nichts‹, erwiderte er.
    Es gab Zeiten, da hätte mich diese Antwort aufgeregt, aber Gott sei Dank lebte ich ein neues Leben. Ich sagte zu ihm, die Arbeit in der Pathologie brächte ihn bestimmt auf scharfsinnige oder zumindest originelle Gedanken über das menschliche Schicksal. Er sah mich an, als würde ich mich über ihn lustig machen oder als spräche ich Französisch. Ich ließ nicht locker. Diese Umgebung, sagte ich und machte eine Armbewegung, die den ganzen Raum einschloss, sei doch gewissermaßen der ideale Ort, um sich Gedanken über die Kürze der menschlichen Existenz zu machen, über die Unergründlichkeit des menschlichen Schicksals und über die Vergeblichkeit weltlichen Strebens.
    Mit Entsetzen wurde mir plötzlich bewusst, dass ich mit ihm sprach, als wäre er der große deutsche Schriftsteller und dies das Gespräch, das wir nie geführt hatten. Ich habe nicht viel Zeit, sagte er. Wieder sah ich ihm in die Augen. Es bestand nicht der geringste Zweifel: Es waren die Augen meines Idols. Und seine Antwort: Ich habe nicht viel Zeit. Wie viele Türen öffnete diese Antwort! Wie viele Wege taten sich mit einem Mal hinter dieser Antwort auf und wurden sichtbar!
    Ich habe nicht viel Zeit, ich muss Leichen von oben nach unten karren. Ich habe nicht viel Zeit, ich muss atmen, essen, trinken, schlafen. Ich habe nicht viel Zeit, ich muss mich im Takt unzähliger Rädchen bewegen. Ich habe

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