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nicht viel Zeit, ich lebe. Ich habe nicht viel Zeit, ich sterbe. Wie Sie sich denken können, kam es zu keinen weiteren Fragen. Ich half ihm, das Schubfach zu öffnen. Ich wollte ihm helfen, den Leichnam hineinzulegen, doch durch meine Ungeschicklichkeit in solchen Dingen rutschte das Leintuch herunter, und da sah ich in das Gesicht der Leiche. Ich schloss die Augen, senkte den Kopf und ließ ihn in Ruhe seine Arbeit tun.
Als ich ging, stand mein Freund an der Tür des Kühlraums und sah mir entgegen. Alles in Ordnung?, fragte er. Ich fand oder wusste keine Antwort. Vielleicht sagte ich: Nichts ist in Ordnung. Aber das war es nicht, was ich sagen wollte.«
Bevor Archimboldi, der noch eine Tasse Tee getrunken hatte, sich verabschiedete, sagte der Mann, der ihm seine Schreibmaschine lieh:
»Jesus ist das Meisterwerk. Die beiden Räuber sind die zweitklassigen Werke. Warum sind sie da? Nicht um die Kreuzigung zu verherrlichen, wie einige einfältige Seelen glauben, sondern um sie zu verbergen.«
Auf einer seiner vielen Streifzüge durch die Stadt, die Archimboldi unternahm, um jemanden zu finden, der ihm eine Schreibmaschine leihen konnte, traf er die beiden Landstreicher wieder, mit denen er sich den Keller geteilt hatte, bevor er in die Dachkammer gezogen war.
Offensichtlich hatte sich bei seinen früheren Leidensgenossen wenig geändert. Der alte Journalist hatte versucht, Arbeit in der neuen Kölner Zeitung zu bekommen, wurde aber wegen seiner Nazivergangenheit nicht genommen. Seine joviale und gutmütige Art verlor sich in dem Maße, wie ihm der Wind ins Gesicht blies und die Gebrechen des Alters sich einzustellen begannen. Der Panzerveteran dagegen arbeitete in einer Motorenwerkstatt und war in die Kommunistische Partei eingetreten.
Waren beide zusammen in ihrer Kellerwohnung, stritten sie ununterbrochen. Der Panzergrenadier warf dem alten Journalisten seine Nazi-Täterschaft und seine Feigheit vor. Der alte Journalist sank auf die Knie und schwor Stein und Bein, dass er wohl feige sei, aber ein Nazi, das, was man einen Nazi nenne, sei er nie gewesen. Wir schrieben, was man uns vorschrieb. Wollten wir nicht entlassen werden, mussten wir schreiben, was man uns diktierte, stöhnte er, doch ließ das den Panzergrenadier kalt, der seinen Vorwürfen die unabweisbare Tatsache hinzufügte, dass, während er und Leute wie er in Panzern kämpften, die abgeschossen wurden und verbrannten, der Journalist und Leute wie er sich dazu hergaben, propagandistische Lügen zu verbreiten, ohne sich um die Gefühle der Panzergrenadiere und der Mütter der Panzergrenadiere und der Verlobten der Panzergrenadiere zu scheren.
»Das«, sagte er, »werde ich dir nie verzeihen, Otto.«
»Aber wenn es doch nicht meine Schuld ist«, jaulte der Journalist.
»Heul nur, heul nur«, sagte der Panzergrenadier.
»Wir haben versucht, Gedichte zu schreiben«, sagte der Journalist, »haben versucht, uns über die Zeit zu retten und am Leben zu bleiben, um zu sehen, was danach kommt.«
»Du hast ja gesehen, was danach kam, du mieses Schwein«, entgegnete der Panzergrenadier.
Manchmal sprach der Journalist von Selbstmord.
»Ich sehe keine andere Lösung«, sagte er zu Archimboldi, als der sie besuchen kam. »Als Journalist bin ich geliefert. Als Arbeiter habe ich nicht die geringste Chance. Als Angestellter in der Stadtverwaltung würde ich immer den Makel meiner Vergangenheit tragen. Mich selbständig zu machen, fehlt mir das Geschick. Warum also mein Leiden unnötig verlängern?«
»Um deine Schuld gegenüber der Gesellschaft abzutragen, um für deine Lügen zu büßen«, rief ihm der Panzergrenadier zu, der am Tisch sitzen blieb und so tat, als sei er in die Lektüre einer Zeitung vertieft, während er in Wirklichkeit lauschte.
»Du weißt nicht, was du sagst, Gustav«, erwiderte der Journalist. »Meine einzige Sünde, das habe ich dir schon hunderttausendmal gesagt, war meine Feigheit, und dafür bezahle ich teuer.«
»Du solltest noch viel teurer dafür bezahlen müssen, Otto, noch viel teurer.«
Bei seinem Besuch brachte Archimboldi den Journalisten auf den Gedanken, sein Glück vielleicht in einer anderen Stadt zu versuchen, einer Stadt, die weniger gezeichnet war als Köln, einer kleineren Stadt, wo ihn niemand kannte, eine Möglichkeit, die dem Journalisten noch nicht in den Sinn gekommen war und die er von diesem Moment an ernsthaft in Erwägung zog.
Zwanzig Tage brauchte Archimboldi zum Abtippen seines Romans. Er machte einen
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