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grämen uns und sagen, wir haben nichts gewusst! Wir waren ahnungslos! Die Nazis sind es gewesen! Wir hätten uns nicht so verhalten! Jammern, das können wir. Mitleid und Erbarmen heischen, das können wir. Uns ist es egal, ob man sich über uns lustig macht, wenn man uns nur bedauert und uns verzeiht. Die Zeit wird kommen, wo wir eine lange Brücke des Vergessens einweihen werden. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ich verstehe«, sagte Archimboldi.
»Ich war Schriftsteller«, sagte der Alte.
»Aber das ist vorbei. Die Schreibmaschine hat mir mein Vater geschenkt. Ein liebevoller, kluger Vater, der dreiundneunzig Jahre alt geworden ist. Ein guter Mensch im Grunde. Ein Mann, der - überflüssig, es zu sagen - an den Fortschritt geglaubt hat. Mein armer Vater. Er glaubte an den Fortschritt und selbstverständlich an das Gute im Menschen. Auch ich glaube an das Gute im Menschen, aber das will nichts heißen. Ein Mörder ist im Grunde gut. Wir Deutschen wissen das. Na und? Ich kann eine ganze Nacht mit einem Mörder zusammen trinken, und wenn wir dann gemeinsam die Sonne aufgehen sehen, singen oder summen wir vielleicht ein Stück von Beethoven. Na und? Vielleicht weint der Mörder an meiner Schulter. Normal. Mörder sein ist nicht leicht. Das wissen wir gut, Sie und ich. Ganz und gar nicht leicht. Es verlangt Reinheit und Willen, Willen und Reinheit. Eine Reinheit wie aus Glas und einen Willen wie Kruppstahl. Nicht ausgeschlossen, dass ich mich an der Schulter des Mörders ausweine und ihm sanfte Worte wie Bruder, Kamerad, Leidensgenosse ins Ohr flüstere. In diesem Augenblick ist der Mörder gut, da er im Grunde seines Herzens gut ist, und ich bin ein Idiot, da ich im Grunde meines Herzens ein Idiot bin, und wir beide sind sentimental, da unsere Kultur zu haltloser Sentimentalität neigt. Aber wenn das Werk zum Abschluss kommt und ich allein bin, wird der Mörder das Fenster meines Zimmers öffnen, wird auf leichten Krankenpflegersohlen hereinkommen und mich niedermetzeln, bis kein Tropfen Blut mehr in mir ist.
Mein armer Vater. Ich war ein Schriftsteller, war ein Schriftsteller, aber mein träges, unersättliches Gehirn fraß an meinen Eingeweiden. Geier meines eigenen Prometheus', Prometheus meines eigenen Geiers, wurde mir eines Tages klar, dass es mir gelingen konnte, ausgezeichnete Artikel in Zeitungen und Zeitschriften zu veröffentlichen, sogar Bücher, für die das Papier nicht zu schade war, auf dem sie gedruckt wurden. Ich wusste aber auch, dass ich es niemals schaffen würde, mich dem zu nähern oder zu dem vorzudringen, was wir ein Meisterwerk nennen. Sie werden sagen, dass die Literatur nicht allein aus Meisterwerken besteht, sondern dass sie von, sagen wir, zweitklassigen Werken bevölkert wird. Auch ich habe das geglaubt. Die Literatur ist ein riesiger Wald, und die Meisterwerke sind die Seen, die gewaltigen oder die exotischen Bäume, die kostbaren und ausdrucksvollen Blumen oder die verborgenen Grotten, aber ein Wald besteht auch aus ganz gewöhnlichen Bäumen, aus Grasflächen, Tümpeln, schmarotzenden Pflanzen, Pilzen und wilden Blumen. Das war ein Irrtum. In Wirklichkeit gibt es keine zweitklassigen Werke. Was ich sagen will: Der Autor eines zweitklassigen Werkes heißt nicht Hinz oder Kunz. Hinz und Kunz gibt es natürlich schon, sie leiden und arbeiten und publizieren in Zeitungen und Zeitschriften, von Zeit zu Zeit veröffentlichen sie sogar ein Buch, für das das Papier nicht zu schade ist, auf dem es gedruckt wird, aber diese Bücher und diese Artikel sind, wenn Sie genau hinschauen, nicht von ihnen geschrieben.
Jedes zweitklassige Werk hat einen geheimen Autor, und jeder geheime Autor ist per definitionem ein Autor von Meisterwerken. Wer also schreibt ein solches zweitklassiges Werk? Offenbar doch ein zweitklassiger Autor. Die Frau des bedauernswerten Mannes kann es bezeugen, sie hat gesehen, wie er am Tisch saß, über die leeren Seiten gebeugt, wie er sich krümmte und seine Feder über das Papier huschen ließ. Ein unwiderleglicher Beweis, könnte man meinen. Aber was sie gesehen hat, ist nur der sichtbare Teil. Die äußere Hülle der Literatur. Ein Trugbild«, sagte der alte ehemalige Schriftsteller zu Archimboldi, und Archimboldi musste an Ansky denken. »In Wirklichkeit wird das zweitklassige Werk von einem geheimen Schriftsteller geschrieben, der nur die Eingebung eines Meisterwerks akzeptiert.
Unser braver Schreibhandwerker schreibt. Versunken in das, was recht oder schlecht
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