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haben, hört man dort keinen einzigen Vogel mehr. Freilich hört man auch auf den Flächen rings um das betroffene Areal, wo nicht eine Bombe gefallen ist, keinen einzigen Vogel singen.
Dann tauchen die feindlichen Truppen auf. In diese stahlgraue, rauchende Kraterlandschaft vorzudringen ist eine Erfahrung, die ohne ein gewisses Grauen nicht zu haben ist. Aus der wüst aufgeworfenen Erde richten sich hie und da mit irrem Blick deutsche Soldaten auf. Einige ergeben sich unter Tränen. Andere - Fallschirmjäger, Wehrmachtsveteranen, Infanteriebataillone der SS - eröffnen das Feuer, versuchen Kommandostrukturen wiederherzustellen, den feindlichen Vormarsch aufzuhalten. Einige wenige, die ungestümsten von ihnen, stehen ganz offensichtlich unter Alkoholeinfluss. Zu ihnen gehört zweifellos auch der Fallschirmjäger Mickey Bittner, denn sein Rezept, wie man jede Art Bombardement übersteht, ist eben das: Schnaps trinken, Cognac trinken, Branntwein trinken, Grappa trinken, Whisky trinken, alles, was stark genug ist, zur Not auch Wein, um auf diese Weise den Lärm auszublenden oder um den Lärm und das Pulsieren und Schwindeln des Gehirns ununterscheidbar zu machen.
Anschließend wollte Mickey Bittner wissen, worum es in Archimboldis Roman gehe und ob es sich um sein erstes Buch handele oder ob er auf ein literarisches Werk zurückblicken könne. Archimboldi erwiderte, es sei sein erster Roman, und schilderte in groben Zügen die Handlung. Ich sehe da eine Möglichkeit, sagte Bittner. Gleich darauf fügte er hinzu: Aber in diesem Jahr werden wir's nicht machen können. Sagte dann: Ein Vorschuss kommt natürlich nicht in Frage. Stellte wenig später klar: Wir bieten Ihnen fünf Prozent vom Ladenpreis, eine mehr als gerechte Regelung. Und gestand: In Deutschland wird nicht mehr so viel gelesen wie früher, jetzt haben praktischere Dinge Vorrang. Archimboldi war sich daraufhin sicher, dass dieser Bursche redete, um zu reden, wie wahrscheinlich all die Dreckskerle von Fallschirmjägern, all die Schweinehunde von General Student nur redeten, um zu reden, um ihre eigene Stimme zu hören und sich davon zu überzeugen, dass noch niemand sie aufgeknüpft hatte.
Während der nächsten Tage beschäftigte Archimboldi der Gedanke, dass Deutschland jetzt nichts so sehr brauche wie einen Bürgerkrieg.
Er glaubte keine Sekunde daran, dass Bittner, der sicher nichts von Literatur verstand, seinen Roman veröffentlichen würde. Er fühlte sich nervös und verlor den Appetit. Er las kaum, und das wenige, das er las, verwirrte ihn so, dass er, kaum hatte er ein Buch aufgeschlagen, es wieder zuschlagen musste, weil er anfing zu zittern und einen unwiderstehlichen Drang empfand, auf die Straße hinaus und durch die Gegend zu laufen. Er schlief wohl noch mit Ingeborg, doch wechselte er gelegentlich mittendrin auf einen anderen Planeten, einen verschneiten Planeten, wo er dann Anskys Heft memorierte.
»Wo bist du?«, fragte ihn Ingeborg, wenn das geschah.
Selbst die Stimme der Frau, die er liebte, erreichte ihn wie aus weiter Ferne. Nach zwei Monaten ohne Nachricht, weder positiv noch negativ, erschien Archimboldi im Verlag und verlangte Mickey Bittner zu sprechen. Die Sekretärin sagte, Herr Bittner kümmere sich derzeit um das Im- und Exportgeschäft mit lebensnotwendigen Gütern und sei nur äußerst selten im Verlag anzutreffen, der selbstverständlich noch ihm gehöre, obwohl er sich kaum mehr blicken lasse. Auf sein Drängen erhielt Archimboldi die Adresse des neuen Büros von Bittner, das am Stadtrand von Köln gelegen war. In einer Gegend mit alten Fabriken aus dem neunzehnten Jahrhundert, über einer Lagerhalle, in der sich große Kisten stapelten, befand sich das Büro von Bittners neuem Geschäft, doch ihn fand er auch dort nicht.
Statt seiner traf er auf drei ehemalige Fallschirmjäger und eine Sekretärin mit Silbertönung im Haar. Von den Fallschirmjägern erfuhr er, dass Mickey Bittner in diesem Moment in Antwerpen weilte, wo er einen Vertrag über eine Ladung Bananen abschloss. Daraufhin fingen alle an zu lachen, und Archimboldi brauchte eine Weile, bis er begriff, dass sie über die Bananen und nicht über ihn lachten. Dann begannen die Fallschirmjäger ein Gespräch über Kino, das alle, auch die Sekretärin, glühend verehrten, und fragten Archimboldi, an welcher Front und in welcher Waffengattung er gekämpft habe, worauf Archimboldi antwortete, im Osten, immer im Osten, bei der Infanterie, der pferdebespannten, nicht
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