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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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gemietet hatten, und in der Wohnstube vor dem Kamin, wenn Leube bei der Arbeit war. Die wenigen Tage in Kempten hatten sie weitgehend darauf verwandt, miteinander zu vögeln. Im Dorf hatten sie es auch einmal nachts im Stall zwischen den Kühen getan, während Leube und die Dorfbewohner schliefen. Wenn sie morgens aufstanden, sahen sie aus, als hätten sie eine Prügelei hinter sich. Beide hatten blaue Flecken am ganzen Körper und tiefe Ringe unter den Augen, von denen Leube sagte, das seien Augenringe von Leuten, die in Städten dahinvegetieren.
    Um zu Kräften zu kommen, aßen sie Schwarzbrot mit Butter und tranken große Becher warmer Milch. Eines Nachts, nachdem Ingeborg lange gehustet hatte, fragte sie den Bauern, woran seine Frau gestorben sei. Am Kummer, erwiderte Leube wie immer.
    »Seltsam«, sagte Ingeborg, »im Dorf erzählt man sich, Sie hätten sie umgebracht. «
    Leube wirkte nicht überrascht, denn er wusste um die Gerüchte. »Wenn ich sie umgebracht hätte, säße ich jetzt nicht hier«, sagte er. »Alle Mörder, auch die, die aus ehrenwerten Motiven töten, landen früher oder später im Gefängnis.«
    »Glaube ich nicht«, sagte Ingeborg, »es gibt viele Leute, die jemanden umbringen, vor allem viele, die ihre Frauen umbringen und die nie ins Gefängnis kommen.«
    Leube lachte.
    »Das gibt es nur in Romanen«, sagte er.
    »Ich wusste nicht, dass Sie Romane lesen«, erwiderte Ingeborg.
    »Als ich jung war, habe ich Romane gelesen«, sagte Leube, »damals konnte ich problemlos meine Zeit vertun, meine Eltern lebten noch. Und wie soll ich meine Frau umgebracht haben?« fragte er nach langem Schweigen, während dem man nur das Feuer knistern hörte.
    »Es wird behauptet, Sie hätten sie in eine Schlucht gestoßen«, sagte Ingeborg.
    »In welche Schlucht?«, fragte Leube, dem die Unterhaltung zunehmend Vergnügen bereitete.
    »In welche, weiß ich nicht«, sagte Ingeborg.
    »Hier gibt es viele Schluchten, gnädige Frau«, sagte Leube, »es gibt die Schafsschlucht, die Blumenschlucht, die Schattenschlucht (die so heißt, weil sie immer im Schatten liegt) und die Schlucht der Kinder vom Kreuze, dann die Teufelsschlucht und die Marienschlucht, die Sankt-Bernhard-Schlucht und die Kieselschlucht, über hundert Schluchten gibt es von hier bis zum Grenzposten.«
    »Keine Ahnung«, sagte Ingeborg, »in irgendeine davon.«
    »Nein, nicht in irgendeine, es muss schon eine bestimmte, ganz konkrete sein, denn hätte ich meine Frau umgebracht, indem ich sie in irgendeine Schlucht gestoßen habe, wäre das genauso, als hätte ich sie nicht umgebracht. Es muss eine bestimmte, nicht irgendeine sein«, wiederholte Leube. »Schon deswegen«, sagte er nach einem erneuten langen Schweigen, »weil es Schluchten gibt, die sich während der Schneeschmelze im Frühjahr in Flussbette verwandeln, in denen alles ins Tal geschwemmt wird, was hineingeworfen wurde oder hineingefallen ist oder dort versteckt werden sollte, abgestürzte Hunde, verirrte Kälber, Stücke von Holz«, sagte Leube mit fast tonloser Stimme. »Und was sagen meine Nachbarn sonst?«, fragte Leube nach einer Weile.
    »Sonst nichts«, sagte Ingeborg und sah ihm ins Gesicht.
    »Sie lügen alle«, sagte Leube, »schweigen und lügen, sie könnten noch vieles sagen, aber sie schweigen und lügen. Sie sind wie Tiere, finden Sie nicht?«
    »Nein, ich hatte nicht diesen Eindruck«, sagte Ingeborg, die in Wirklichkeit mit kaum einer Handvoll Dorfbewohner gesprochen hatte, allesamt zu sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt, als um Zeit mit einer Auswärtigen zu vergeuden.
    »Und doch«, sagte Leube, »haben sie immerhin so viel Zeit gehabt, Sie über mein Leben ins Bild zu setzen.«
    »Sehr oberflächlich «, sagte Ingeborg und stieß dann ein lautes, bitteres Lachen aus, das einen erneuten Hustenanfall auslöste.
    Solange sie hustete, hielt Leube die Augen geschlossen.
    Als sie ihr Taschentuch vom Mund nahm, glich der Blutfleck einer riesigen Rose mit voll entfalteten Blättern.
    In der gleichen Nacht verließ Ingeborg, nachdem sie und Archimboldi miteinander geschlafen hatten, das Dorf und nahm den Weg ins Gebirge. Das Licht des Vollmonds brach sich, wie es schien, im Schnee. Es wehte kein Wind und die Kälte war moderat, dennoch trug Ingeborg ihren dicksten Pullover, Jacke, Stiefel und Wollmütze. Hinter der ersten Kurve kam das Dorf außer Sicht, und zurück blieben nur ein Saum von Fichten und die Berge, die sich in der Nacht verdoppelten, allesamt weiß wie Nonnen,

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