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offenbar in allerletzter Minute machte der Kleine einen Kopfstand, und alles lief glatt.
Sie nannten ihn Klaus, nach dem Vater der Einäugigen, obwohl Lotte kurz erwogen hatte, ihn wie ihren Bruder Hans zu nennen. In Wirklichkeit, dachte Lotte, ist der Name nicht so wichtig, wichtig war die Person. Von Anfang an war Klaus der Liebling seiner Großmutter und seines Vaters, aber wen der Kleine am meisten liebte, war Lotte. Seiner Mutter fiel immer wieder auf, wie sehr er doch ihrem Bruder ähnelte, als wäre er eine Reinkarnation ihres Bruders in klein, was ihr gut gefiel, denn die Gestalt ihres Bruders war immer mit den Attributen groß und maßlos belegt worden.
Als Klaus zwei Jahre alt war, wurde Lotte erneut schwanger, aber im vierten Monat erlitt sie eine Fehlgeburt, und etwas lief schief, jedenfalls konnte sie keine Kinder mehr bekommen. Klaus' Kindheit glich der üblichen Paderborner Mittelschichtkindheit. Er spielte gern mit anderen Kindern Fußball, auf dem Gymnasium dann aber Basketball. Einmal kam er mit einem blauen Auge nach Hause. Wie er erklärte, habe ein Klassenkamerad sich über das blinde Auge seiner Großmutter lustig gemacht, daraufhin hätten sie sich geprügelt. Er war kein brillanter Schüler, aber Maschinen jeglicher Art hatten es ihm angetan, und er konnte Stunden in der Werkstatt damit zubringen, den Mechanikern seines Vaters beim Arbeiten zuzusehen. Er war fast nie krank, wenn es in seltenen Fällen aber doch einmal geschah, bekam er hohes Fieber, das ihn delirieren und Dinge sehen ließ, die sonst niemand sah.
Als er zwölf Jahre alt war, starb seine Großmutter im Paderborner Krankenhaus an Krebs. Sie stand zuletzt ständig unter Morphium, und als Klaus sie besuchen kam, verwechselte sie ihn mit Archimboldi, nannte ihn mein Sohn und sprach mit ihm im preußischen Dialekt ihres Heimatdorfs. Manchmal erzählte sie ihm von seinem Großvater, dem Einbeinigen, von den Jahren, in denen er der Armee des Kaisers treu gedient hatte, und von dem Schmerz, der ihn zeitlebens begleitete, dass er nämlich zu klein war, um dem Eliteregiment der preußischen Garde anzugehören, zu dem nur zugelassen wurde, wer über eins neunzig maß.
»Klein von Wuchs, aber groß an Tapferkeit, das war dein Vater«, sagte seine Großmutter mit dem seligen Lächeln der Morphinistin.
Bislang hatte man Klaus nie von seinem Onkel erzählt. Nach dem Tod der Großmutter fragte er Lotte nach ihm. Im Grunde interessierte er ihn nicht besonders, aber er war so traurig, dass er dachte, das könne ihn von seinem Schmerz ablenken. Lotte hatte lange nicht mehr an ihren Bruder gedacht, und Klaus' Frage kam gewissermaßen überraschend. Damals hatten sich Lotte und Werner in Immobiliengeschäfte eingelassen, Geschäfte, von denen sie nichts verstanden, und fürchteten nun um ihr Geld. Darum fiel Lottes Antwort vage aus: Sie sagte, sein Onkel sei zehn Jahre älter als sie oder so ähnlich, seine Art des Lebensunterhalts sei nicht gerade ein leuchtendes Beispiel für die Jugend oder so ähnlich, und seit geraumer Zeit habe die Familie nichts von ihm gehört, da er von der Erdoberfläche spurlos verschwunden sei oder so ähnlich.
Später erzählte sie Klaus, dass sie als Kind geglaubt habe, ihr Bruder sei ein Riese, aber solche fixen Ideen hätten ja alle kleinen Mädchen.
Ein andermal sprach Klaus mit Werner über seinen Onkel, und der nannte ihn einen sympathischen Burschen, einen guten und ziemlich wortkargen Beobachter, woraufhin Lotte meinte, ihr Bruder sei nicht immer so gewesen, vielmehr hätten die Kanonen und Mörser und Maschinengewehrsalven des Krieges ihn verstummen lassen. Als Klaus fragte, ob er seinem Onkel ähnlich sehe, sagte Lotte ja, sie sähen sich ähnlich, beide seien groß und dünn, aber Klaus habe blondere Haare als ihr Bruder und wahrscheinlich auch die blaueren Augen. Daraufhin stellte Klaus keine Fragen mehr, und das Leben ging weiter wie vor dem Tod der Einäugigen.
Die neuen Geschäfte von Lotte und Werner liefen nicht so gut wie erwartet, allerdings verloren sie auch kein Geld, im Gegenteil, ein wenig sprang schon für sie heraus, wenn es sie auch nicht reich machte. Die Autowerkstatt lief weiter auf vollen Touren, und niemand wäre auf die Idee gekommen, es könnte Grund zur Klage geben.
Mit siebzehn geriet Klaus in Konflikt mit der Polizei. Er war kein guter Schüler, und seine Eltern hatten sich damit abgefunden, dass es mit einem Studium nichts werden würde, doch mit siebzehn war er mit zwei
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