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lassen, Lotte aber ließ sich nicht entmutigen, und statt die Hände in den Schoß zu legen, verdoppelte und verdreifachte sie ihr tägliches Arbeitspensum. Nicht nur sorgte sie dafür, dass ihre Investitionen und die Werkstatt weiterhin florierten, sie steckte auch überschüssiges Kapital in neue Geschäfte und hatte Erfolg damit.
Unter der Arbeit, der übermäßigen Arbeit, schien sie förmlich aufzublühen. Sie mischte immer und überall mit, nie kam sie zur Ruhe, und einige ihrer Angestellten hassten sie regelrecht, was sie allerdings nicht kümmerte. Während des Urlaubs, den sie nie länger als sieben oder neun Tage ausdehnte, zog es sie in das warme Klima Italiens oder Spaniens, wo sie am Strand in der Sonne lag und Bestseller las. Manchmal war sie mit Zufallsbekanntschaften unterwegs, meist aber verließ sie das Hotel allein, überquerte die Straße, und schon war sie am Strand, wo sie einen Jungen dafür bezahlte, dass er ihr eine Liege und einen Sonnenschirm aufstellte. Dann nahm sie ihr Bikini-Oberteil ab, ohne sich darum zu scheren, dass ihre Brüste nicht mehr waren wie früher, oder zog den Badeanzug bis über den Bauch herunter und schlief in der Sonne ein. Wenn sie aufwachte, drehte sie den Schirm so, dass sie Schatten hatte, und las weiter in ihrem Buch. Ab und zu schaute der Junge, der die Liegen und Schirme vermietete, vorbei, und Lotte gab ihm Geld, damit er ihr aus dem Hotel einen Cuba-Libre oder ein Glas Sangria mit viel Eis brachte. Nachts ging sie manchmal hinaus auf die Terrasse des Hotels oder in die Diskothek im Erdgeschoss, die sich mit deutschen, englischen und holländischen Gästen ungefähr ihres Alters füllte, und schaute eine Weile den Paaren beim Tanzen zu oder lauschte dem Orchester, das bisweilen Songs aus den frühen sechziger Jahren anstimmte. Von weitem sah sie aus wie eine etwas füllige Frau mit hübschem Gesicht, reservierter Miene und einem Hauch von Vornehmheit und leiser Traurigkeit. Von nahem, wenn ein verwitweter oder geschiedener Mann sie zum Tanzen oder zu einem Spaziergang auf der Strandpromenade einlud und Lotte lächelte und dankend ablehnte, war sie wieder das Mädchen vom Land, alle Vornehmheit verflog, und zurück blieb nur die Traurigkeit.
Im Jahr 1995 erhielt sie ein Telegramm aus Mexiko, aus einer Stadt namens Santa Teresa, in dem man ihr mitteilte, dass Klaus im Gefängnis saß. Unterschrieben war das Telegramm von einer gewissen Victoria Santolaya, seiner Rechtsanwältin. Lotte war so aufgewühlt, dass sie ihr Büro verlassen, in ihre Wohnung hinaufgehen und sich ins Bett legen musste, obwohl sie natürlich kein Auge zumachen konnte. Klaus war am Leben. Das war das Einzige, was zählte. Sie beantwortete das Telegramm und fügte ihre Telefonnummer bei, und vier Tage später hörte sie inmitten eines Dialogs von Telefonistinnen, die fragten, ob sie bereit sei, ein R-Gespräch anzunehmen, die Stimme einer Frau, die in einem ganz langsamen, jede Silbe betonenden Englisch mit ihr redete, wovon sie trotzdem nichts verstand, weil sie die Sprache nicht beherrschte. Schließlich sagte die Frau in einer Art Deutsch: »Klaus gut«, und» Übersetzer.« Und noch etwas, das deutsch klang oder für Victoria Santolaya wie Deutsch klingen mochte, Lotte aber wieder nicht verstand. Und eine Telefonnummer, die sie ihr auf Englisch diktierte, mehrmals, und die Lotte sich notierte, denn englische Zahlen zu verstehen war keine so schwierige Sache.
An diesem Tag arbeitete Lotte nicht. Sie rief bei einer Sekretärinnenschule an und sagte, sie wolle ein Mädchen einstellen, das perfekt Englisch und Spanisch spreche, dabei arbeiteten in der Werkstatt etliche Mechaniker, die Englisch sprachen und ihr hätten helfen können. In der Schule hieß es, sie hätten genau das richtige Mädchen für sie, wann sie es bräuchte. Lotte erklärte, sie brauche sofort jemanden. Drei Stunden später erschien in der Werkstatt eine etwa fünfundzwanzigjährige junge Frau in Jeans und mit glattem, hellbraunen Haar, die kurz mit den Mechanikern herumalberte, bevor sie in Lottes Büro hinaufging.
Das Mädchen hieß Ingrid, und Lotte erklärte ihr, dass ihr Sohn in Mexiko im Gefängnis sitze und sie mit seiner mexikanischen Anwältin sprechen müsse, die aber nur Englisch und Spanisch verstehe. Lotte nahm an, dass sie nach dieser Einleitung alles noch einmal von vorn erklären müsse, aber Ingrid war ein kluges Mädchen und verstand sofort. Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer der Auskunft,
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