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genau, sie waren da, in einem der Zimmer, aber sie sah sie nie, hörte sie nicht einmal, was noch seltsamer war, da Kinder fast nie längere Zeit still sind.
In manchen Nächten grübelte und spekulierte Lotte so lange über Klaus' Leben in der Fremde, bis sie einschlief und von ihrem Sohn zu träumen begann. Sie sah dann ein Haus, ein amerikanisches Haus, das sie aber nicht als amerikanisches Haus erkannte. Sie näherte sich dem Haus und nahm dabei einen penetranten Geruch wahr, den sie zunächst als unangenehm empfand, dachte dann aber: Sicher kocht Klaus' Frau gerade etwas Indisches. Und so verwandelte sich der Geruch in Sekunden schnelle in einen exotischen und dann doch angenehmen Geruch. Im nächsten Moment sah sie sich an einem Tisch sitzen. Auf dem Tisch befanden sich ein Krug, ein leerer Teller, ein Plastikbecher und eine Gabel, mehr nicht, was sie aber am meisten beschäftigte, war die Frage, wer sie hereingelassen hatte. Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, und das schmerzte sie.
Ihr Schmerz war wie das Quietschen von Kreide auf einer Schiefertafel. Als würde ein Kind absichtlich mit Kreide auf einer Schiefertafel quietschen. Vielleicht war es auch nicht Kreide, sondern waren es seine Fingernägel, vielleicht auch nicht seine Fingernägel, sondern seine Zähne. Mit der Zeit wurde der Alptraum, der Alptraum von Klaus' Haus, wie sie ihn nannte, ein regelmäßig wiederkehrender Alptraum. Wenn sie Werner morgens beim Zubereiten des Frühstücks half, sagte sie manchmal:
»Ich hatte einen Alptraum.«
»Den Alptraum von Klaus' Haus?«, fragte Werner.
Mit abwesendem Blick und ohne ihn anzuschauen nickte Lotte stumm. Im Grunde hoffte sie ebenso wie Werner, dass sich Klaus irgendwann mit der Bitte um Geld an sie wenden würde, aber die Jahre vergingen, und Klaus schien ein für alle Mal in den Vereinigten Staaten verschollen.
»Wie ich Klaus kenne, würde es mich nicht wundern, wenn er jetzt in Alaska lebte«, sagte Werner.
Eines Tages wurde Werner krank, und die Ärzte sagten, er müsse aufhören zu arbeiten. Da er keine Geldsorgen hatte, betraute er einen seiner erfahrensten Mechaniker mit der Werkstattleitung und ging mit Lotte auf Reisen. Sie machten eine Kreuzfahrt auf dem Nil, besuchten Jerusalem, fuhren in einem Mietwagen kreuz und quer durch Südspanien, schauten sich Florenz, Rom und Venedig an. Ihre erste Reise jedoch führte sie in die Vereinigten Staaten. Sie besuchten New York, fuhren dann nach Macon, Georgia, und stellten bekümmert fest, dass sich Klaus' einstige Adresse als Wohnung in einem Altbau am Rande des Schwarzenghettos entpuppte.
Vielleicht wegen der vielen amerikanischen Filme, die sie zusammen gesehen hatten, kam ihnen während ihrer Reise der Gedanke, dass es das Beste wäre, einen Privatdetektiv anzuheuern. In Atlanta suchten sie einen auf und schilderten ihm ihr Problem. Werner sprach ein wenig Englisch, aber der Detektiv, früher Polizist in Atlanta, nicht faul, ließ sie in seinem Büro Platz nehmen und lief los, um ein englisch-deutsches Wörterbuch aufzutreiben, kam in Windeseile zurück und setzte das Gespräch fort, als wäre nichts geschehen. Er war auch kein Scharlatan, denn er sagte ihnen gleich, die Suche nach einem Deutschen mit amerikanischem Pass nach so langer Zeit sei wie die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen.
»Möglicherweise hat er sogar seinen Namen gewechselt«, fügte er hinzu.
Aber sie wollten einen Versuch wagen, zahlten ihm für einen Monat Honorar im Voraus, und der Detektiv versprach, ihnen nach Ablauf der Frist das Ergebnis seiner Ermittlungen nach Deutschland zu schicken. Als der Monat um war, traf bei ihnen in Paderborn ein großer Umschlag ein, in dem ihnen der Detektiv eine Auflistung seiner Ausgaben vorlegte und seine Nachforschungen dokumentierte.
Das Ergebnis war gleich null.
Es war ihm gelungen, einen Mann aufzutreiben, der Klaus kannte (den Besitzer des Hauses, in dem er gewohnt hatte), über den er an einen zweiten Mann gelangte, der ihm Arbeit verschafft hatte, aber als ihr Sohn Atlanta verließ, hatte er keinem von beiden gesagt, wohin er ging. Der Detektiv empfahl andere Vorgehensweisen, für die er aber mehr Geld brauchte, und Werner und Lotte beschlossen, ihm für seine Mühe zu danken und den Auftrag zumindest im Augenblick für beendet zu erklären.
Einige Jahre später starb Werner an einem Herzleiden, und Lotte blieb allein zurück. Jede andere Frau in ihrer Situation hätte wahrscheinlich den Kopf hängen
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