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28 Tage lang (German Edition)

28 Tage lang (German Edition)

Titel: 28 Tage lang (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Safier
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anfühlte? So gut, wie er küsste? Mit einem Mal, nach fast einem Jahr, war unser Kuss auf dem Markt für mich wieder völlig präsent. Ob Amos auch daran dachte? Da hörte ich ein Schnarchen.
    Offensichtlich dachte er nicht an den Kuss.
    Ich aber fand nicht in den Schlaf. Erst, weil ich mich über mich selber ärgerte – wieso dachte ich darüber nach, wie Amos duftete? –, dann, weil die schlimmen Erinnerungen an den Morgen wieder hochkamen. Egal wie sehr ich mich bemühte, sie zu verdrängen, zur Ablenkung sogar versuchte, mich auf Amos’ Geruch zu konzentrieren, es gelang mir nicht.
    Ich bekam Angst davor, einzuschlafen und von dem fetten Schwein zu träumen. Solange ich wach war, konnte ich mich damit beruhigen, dass mir am Ende doch nichts geschehen war. Im Traum aber würde der SS -Mann mich gewiss heimsuchen, und da würde ich ihn nicht aufhalten können. Ich wollte nicht alleine mit meiner Angst sein, doch ich mochte Amos auch nicht wecken, ihm gegenüber keine Schwäche zeigen. Echte Kämpfer wie er oder Esther hatten keine Furcht vor dem Feind. Und wenn Amos mich tröstend in die Arme nähme, würde ich gewiss weinen. Wegen dem fetten Schwein. Wegen meiner Albträume, die mich seit Wochen quälten. Und wegen Hannah. Fing ich erst mal an zu weinen, würde ich mich für immer auflösen, das spürte ich genau. Ich würde nie wieder so sein wie zuvor, nie mehr die Kraft finden, meine Aufgabe für den Widerstand zu erfüllen.
    Ich kämpfte mit aller Macht gegen den Schlaf an, vergeblich. Ich träumte jedoch nicht von dem fetten SS -Mann. Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn der mich heimgesucht hätte, denn mir erschien der Spiegelmeister.
    Zuvor hatte ich mir diesen Schurken immer als lustigen Mann ausgemalt, der aus Spiegeln bestand, so wie die Vogelscheuche im
Zauberer von Oz
aus Stroh. In meinem Traum aber war er ein riesiges deformiertes, buckliges Monster, zusammengesetzt aus Tausenden von scharfkantigen Zerrspiegeln.
    In jedem einzelnen der Spiegel sah ich Schreckliches: wie mein Bruder mich schlug, wie eine Puppe mich vergewaltigte, wie ich vergast wurde, wie ich in den Öfen bei lebendigem Leibe verbrannt wurde und, und … Dazu kreischte der Spiegelmeister: «Du wirst büßen! Du wirst büßen!»
    «Für was? Für was?», schrie ich verzweifelt, während das Monster ins Gigantische wuchs und sich immer neue Spiegel öffneten. In denen sah ich, wie die Stacheldrähte der Mauer lebendig wurden und mich erwürgten, wie mein eigener Vater mich aus dem Fenster stieß und wie Ruth Unmengen von Asche hustete, unter der ich lebendig begraben wurde.
    «Du weißt ganz genau, wofür du büßen musst!», rief der Spiegelmeister.
    In seinem Gesicht spiegelten sich die Augen von Hannah, von Papa, von Mama, von Ruth, von Daniel und von dem deutschen Soldaten. Die Augen begannen zu bluten, und diese Augen – nicht etwa Münder, nein, es waren die blutenden Augen – kreischten: «Du lebst und wir nicht!»
    Schreiend wachte ich auf. Neben mir richtete sich Amos auf und fragte erschrocken: «Was ist, Mira, was ist?»
    Nun konnte ich nicht anders, ich musste weinen. Auch wenn es bedeutete, dass ich mich in meinen Tränen auflösen und für immer verlieren würde. Ich wusste jetzt, wofür ich büßen musste: für das Weiterleben.
    Aber noch bevor mir der Satz «Ich hätte mit ihnen sterben sollen» über die Lippen kam, sagte Amos etwas so Überraschendes, dass ich schlagartig aufhörte zu weinen: «Weißt du was, Mira? Morgen gehen wir ins Kino.»

48
    Wir zogen die gute Kleidung an, die Onkelchen uns in den Schrank gehängt hatte, und gingen damit am helllichten Tag durch die Straßen Warschaus. Ich im schicken Rock, Amos mit Anzug und Hut. Im Schauburg-Kino angekommen, stellten wir uns in die Kassenschlange, gemeinsam mit einigen Polen und vielen deutschen Soldaten, die ihre polnischen Freundinnen ausführten und nie im Traum darauf gekommen wären, dass sich mitten unter ihnen zwei Juden befanden. Entsprechend würdigten sie uns keines Blickes, außer dem ein oder anderen Soldaten, der mir auf den Hintern sah, um zu überprüfen, ob ich nicht vielleicht eine attraktivere Geliebte sein könnte als die, die er im Arm hielt. Aber natürlich war ich diesen Soldaten viel zu dürr.
    Nur Amos behandelte mich wie eine Königin. Gewiss nicht, weil er in mich verliebt war, obwohl er immer übertrieben von mir als seiner geliebten Ehefrau sprach, sondern weil er mich aufmuntern wollte. Und weil er nicht die Sorte

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