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28 Tage lang (German Edition)

28 Tage lang (German Edition)

Titel: 28 Tage lang (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Safier
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vieles: Seine Selbstlosigkeit, seinen anständigen Charakter, aber dass er an Gott glauben konnte, das neidete ich ihm am meisten. Wie schön musste es sein, bei einem höheren Wesen Trost zu finden.
    Für Trost hatte ich in diesem Leben Daniel. An ihn konnte ich glauben. Ich packte seine Hand fester. Jetzt war auch die feucht.
    Der SS -Mann deutete mit seiner Pistole vom Wagen weg, die Straße herunter. Als Goldberg sich nicht gleich regte, fuchtelte der SS -Mann wütend mit der Waffe.
    Goldberg rannte los. Die Straße entlang.
    Daniel zischte mir zu: «Mira, schließ die Augen.»
    Doch ich begriff nicht so schnell und sah weiter hin: Die Soldaten legten ihre Gewehre an. Goldberg rannte und rannte. Er wollte um die Ecke biegen, in die Sosnowa-Straße, aus der Schusslinie kommen. Nur noch wenige Schritte, und er würde es schaffen. Die Deutschen schossen. Die Kugeln trafen Goldberg in den Rücken, und er brach am Bordstein zusammen. Im Schatten. So mussten wir nicht sehen, wie sein Blut auf die Straße floss.
    Ich biss mir auf die Zunge, um nicht aufzuschreien, und drückte Daniels Hand so fest, dass ich kurz davor war, seine Finger zu brechen.
    Goldbergs Frau schrie. Ihr Kind weinte. Der SS -Mann nahm seine Pistole und schoss beiden in den Kopf.
    Ich biss noch stärker auf meine Zunge, schmeckte das Blut. Ich heulte stumm, mein ganzer Körper verkrampfte sich. Daniel nahm mich in den Arm, drückte mich schützend an sich, als ob er mir sagen wollte, dass alles nur ein böser Traum wäre. Wie gern hätte ich das geglaubt.
    Aus der Ferne hörte ich weitere Schüsse. Das war kein böser Traum. Der SS -Mann, mit dem Jurek gesprochen hatte, hatte die Wahrheit gesagt: Unser «friedliches» Leben wäre vorbei.

7
    «Würstchen! Würstchen mit Senf!», schrie der Straßenhändler mit dem dreckigen Bart, und mir lief beim Anblick dieser Würstchen das Wasser im Mund zusammen. Und das, obwohl sie klein und verschrumpelt waren und der Verkäufer den Senf nicht etwa mit einem Messer auf sie strich, sondern mit seinen Fingern.
    Gemeinsam mit Daniel ging ich in der Sommerhitze von Essenskarre zu Essenskarre, an denen man für kleines Geld Bohnen, Suppen, Kartoffelpuffer oder eben mit dreckigen Fingern bestrichene Würstchen kaufen konnte. Mein Magen knurrte unerbittlich. Doch mittlerweile konnte ich mir nicht mal das kümmerlichste Würstchen leisten. In den neun Wochen nach der «Nacht des Blutes», wie sie im Ghetto genannt wurde, war ich nicht mehr auf der polnischen Seite gewesen, weil die SS seitdem nicht nur Untergrundaktivisten jagte, sondern auch Ernst im Kampf gegen den Schmuggel machte. Um ihre neue, härtere Gangart zu unterstreichen, fuhren die Deutschen jeden Morgen mit einem Laster ins Ghetto, warfen Leichen der Menschen, die tags zuvor jenseits der Ghetto-Mauern erwischt worden waren, auf der Straße ab und ließen sie zur Abschreckung liegen.
    Den Friedhof durfte man ohne Passierschein nicht mehr betreten, und da ich mir keine gefälschten Papiere leisten konnte, war es mir nicht möglich, auch nur einen Fuß auf das Gelände zu setzen, geschweige denn durch das Loch in der Mauer auf die polnische Seite zu gelangen. An einer anderen Stelle über die Mauer zu klettern war mittlerweile reiner Selbstmord. Wenn man sich der Mauer auch nur näherte, wurde man von den Deutschen beschossen. An einigen Stellen versteckten sich die SS -Leute und sprangen im geeigneten Moment hervor, um die Schmuggler mit Maschinengewehren niederzumähen. Frankenstein alleine sollte, so erzählte man sich, bereits über dreihundert Menschen erschossen haben. Sicher war die Zahl übertrieben, wie so viele Gerüchte im Ghetto übertrieben waren, selbst wenn er «nur» siebzig oder achtzig Menschen auf dem Gewissen hatte. Wenn ein deutsches Monster allein so viele Schmuggler tötete, oder Menschen, die er dafür hielt, wie viele wurden dann von allen Wachen zusammen an der Mauer umgebracht? Zweihundert? Dreihundert? Tausend gar?
    All das ermunterte mich nicht gerade, neue Risiken einzugehen.
    Und dennoch …
    … knurrte mein Magen. Und der meiner Familie.
    «Ich muss es versuchen …», sagte ich zu Daniel und klang dabei sehr viel entschlossener, als ich es in Wirklichkeit war.
    Mein Freund wusste natürlich, was ich mit «es» meinte. Oft genug hatten wir darüber geredet, es gab fast kein anderes Thema mehr, und wir hatten uns bereits müde diskutiert. Daher wiederholte er jetzt nicht eines der unzähligen Argumente gegen mein Ansinnen,

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