28 Tage lang (German Edition)
passiert war, würde Daniel sich freuen, dass mein Leben gerettet worden war. Danach würde er mich allerdings wieder bitten, mit dem Schmuggeln aufzuhören, und ich würde ihm erwidern, dass das nicht möglich war, und wir würden einen großen Teil unserer kurzen gemeinsamen Zeit damit verbringen, uns zu streiten.
Das war es nicht wert.
Am besten, ich erzählte ihm gar nicht erst, dass ich heute drüben war. Aber das würde unter Umständen bedeuten, ihn das erste Mal anzulügen. Und das wegen eines lächerlichen Kusses.
«Na, so nachdenklich heute?»
Ich zuckte vor Schreck zusammen. Ich hatte gar nicht mitbekommen, wie Daniel durch das Fenster geklettert war. Er rutschte die Ziegel runter und kam zu mir. Ich stand auf. Jetzt galt es, ich musste ihm von Stefan erzählen.
«Ist etwas passiert heute?», fragte Daniel und nahm mich dabei in seinen Arm.
Los, Mira, sag es ihm!
«Nein, alles ist gut.»
Toll, Mira.
«Wirklich?», wollte Daniel wissen. Er war kein misstrauischer Mensch, nur ein einfühlsamer, der immer sofort merkte, wenn etwas nicht stimmte.
«Hannah hat einen älteren Jungen geküsst», sagte ich hastig.
Er lachte.
«Das findest du witzig?» Ich fühlte mich in meiner Sorge um die Unschuld meiner Schwester nicht ernst genommen.
«Hab keine Angst», lächelte Daniel, «so etwas passiert im Waisenhaus jeden Tag. Das muss nichts bedeuten.»
Er sprach mit mir beruhigend, wie mit einem der vielen Kinder, die er tagtäglich umsorgte.
Dieser Tonfall regte mich jedes Mal auf.
«Abgesehen davon», ergänzte er, «sind Mädchen immer etwas früher reif als Jungen.»
Anwesende ausgenommen, dachte ich.
Während meine Freundin Ruth schon mit dreizehn ihre Unschuld verloren hatte, war dieser Schritt für mich immer noch zu groß. Ob Daniel noch Jungfrau war, wusste ich gar nicht. Ich hatte ihn auch nie nach früheren Freundinnen gefragt, ich wäre viel zu eifersüchtig gewesen. Die kleine Egoistin in mir wollte, dass ich für ihn die Erste wäre.
Es wurde langsam dunkel, der Mond war lediglich eine kleine Sichel am Himmel – vor drei Tagen war Neumond gewesen –, und überall in der Stadt gingen die Laternen an. Sogar ein paar wenige im Ghetto.
Daniel gab mir einen Kuss auf die Wange.
Das war bei uns in der Regel die Ouvertüre zu einem richtigen Kuss. Spätestens jetzt musste ich ihm von Stefan erzählen.
Daniel küsste mich zärtlich auf den Mund. Liebevoll. Nicht so ungestüm wie Stefan. Und eben weil ich an diesen Jungen dachte, konnte ich Daniels Kuss nicht richtig erwidern.
Daniel sah mich mit seinen wunderbaren Augen an und fragte mitfühlend: «Ist das mit Hannah das Einzige, was dir Sorgen macht?»
Nach unserem leicht verkorksten Kuss konnte ich ihm nicht mehr so einfach die Wahrheit sagen. Was hätte ich denn antworten sollen, wenn er mich gefragt hätte, wie der andere Kuss gewesen war? Hätte ich dann antworten sollen: «Leidenschaftlicher als deiner?»
Ich konnte nur darüber sprechen, wenn ich zu Daniel aufrichtig sagen konnte: «Du küsst in jeglicher Hinsicht besser als dieser blonde Junge.»
Also legte ich meine Hände an Daniels Wangen, zog sein Gesicht an mich heran und küsste so wild und leidenschaftlich, wie ich nur konnte. Heftiger als bei Stefan. Ich benahm mich also vollkommen lächerlich. Daniel konnte mit meiner übertriebenen Leidenschaft nicht mithalten. Er war überrumpelt, und wir ließen erneut voneinander ab. Dabei lachte er ungelenk: «Manchmal bist du schon etwas überraschend.»
«Schlimm?», wollte ich wissen.
«Überraschend ist immer gut», grinste er. «Ich kann auch überraschend.»
Er nahm mich in den Arm und setzte wieder zum Kuss an. Seine Locken kitzelten dabei meine Nase. Ich kratzte mich nervös, und so geriet meine Hand zwischen unsere Gesichter. Daniel brach darauf auch diesen Kussversuch wieder ab.
So würde das nichts werden. Ich musste ihm einfach von Stefan erzählen.
«Ich habe jemanden …», fing ich an.
In diesem Moment hörten wir ein Auto.
Sofort schwiegen wir beide. Juden durften kein Auto fahren. Es mussten also Deutsche sein.
Wir sahen nach unten auf die Sienna-Straße. Ein Auto kam vor dem Haus schräg gegenüber zum Stehen.
Die Menschen in den Häusern reagierten sofort und machten die Lichter aus. Bloß nicht auffallen, den Deutschen keinen Anlass geben, zu einem in die Wohnung zu kommen.
Daniel und ich legten uns auf den Bauch, für den Fall, dass ein Deutscher zu uns hochblicken sollte. Ich griff nach
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