Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
28 Tage lang (German Edition)

28 Tage lang (German Edition)

Titel: 28 Tage lang (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Safier
Vom Netzwerk:
die er bereits Hunderte Male angeführt hatte. Weder mahnte er «Die erschießen jetzt auch bestechliche Judenpolizisten» noch «Letzte Woche haben sie sogar zwei Schwangere getötet», er sah mich einfach nur an und bat inständig: «Tu es nicht.»
    «Du hast gut reden», erwiderte ich gereizt, «für euch sorgt Korczak, ihr kriegt noch regelmäßiges Essen.»
    «Viel ist es nicht», erwiderte er mit ruhiger Stimme.
    Neben mir biss ein Mann im grauen Anzug genüsslich in ein Bockwürstchen mit Senf. Dieser Anblick machte mich noch hungriger und daher noch gereizter, deswegen antwortete ich Daniel viel zu harsch: «Aber immerhin habt ihr zu essen.»
    Gleich im nächsten Augenblick tat mir meine Reaktion leid, wusste ich doch, dass auch die Rationen im Waisenhaus nicht ausreichten, damit alle satt wurden.
    Streitgespräche sollte man nie hungrig inmitten von Essensgerüchen führen. Ich riss mich wieder zusammen und erklärte etwas ruhiger: «Ich kann für meine Familie nur noch das allerbilligste Brot kaufen.» Dabei deutete ich auf den grauen Laib, den ich kurz zuvor gekauft hatte. «Vor lauter Kalk und Sägespänen ist in dem doch kaum noch echtes Mehl.»
    «Wenn du dich erschießen lässt, kannst du gar kein Brot mehr kaufen», erwiderte Daniel ganz ruhig. Er war gegen die Essensgerüche um uns herum immun. Als Waisenkind war er Mangel von klein auf gewöhnt, und daher konnte er den Hunger besser ertragen als ich verwöhntes Arzttöchterchen. Warum nur konnte ich nicht so stark und gelassen sein wie er? Natürlich hatte er recht: Wenn ich starb, würde für Hannah und Mama alles noch viel schlimmer werden. Doch falls ich nichts tat, würde meine Familie langsam, aber sicher verhungern. Wenn mein Geld alle war, und das würde es spätestens nächste Woche sein, würden wir uns nicht mal mehr genug von dem Sägemehlbrot leisten können. Was sollte ich nur tun? Was?
    «Außerdem», so lächelte Daniel mich frech an, «bring ich dich um, wenn du dich töten lässt.»
    Da musste ich doch lachen: «Du hast eine charmante Art zu sagen, dass du mich liebst.»
    «Immerhin kann ich es sagen», rutschte es ihm heraus. Gleich darauf bemühte er sich, mit einem lieben Lächeln den Vorwurf, der in seinen Worten lag, zu kaschieren. Tatsächlich hatte ich noch nie den kurzen, aber so schwerwiegenden Satz ‹Ich liebe dich› gesagt. Eben weil ich bei meiner Mutter gesehen hatte, wie zerstörerisch die Liebe war.
    Daniel hatte all die Monate, die wir nun schon zusammen waren, geduldig auf ein Bekenntnis von mir gewartet. Langsam schien das Ausbleiben an ihm zu nagen.
    Es war auch gemein von mir. Was kostete es mich schon groß, «Ich liebe dich» zu sagen? Es waren ja nur drei Worte. Und Daniel war doch der Halt in meinem Leben. Ohne ihn wäre ich schon längst durchgedreht.
    Ich beschloss, sie ihm zu sagen. Jetzt. Sofort. Ich atmete ein, als ob ich in tiefes Wasser eintauchen wollte, und sagte mit dem Ausatmen: «Du weißt, ich …»
    Weiter kam ich nicht. Weil ich dumme Kuh es doch nicht über die Lippen brachte.
    «Du …?», fragte Daniel.
    «Ich …», rang ich um Worte. Warum zum Teufel war das nur so schwer? «Ich …»
    «Diebin, Diebin!», hörten wir mit einem Male eine Frauenstimme schreien.
    Ein kleines ausgemergeltes Mädchen, nicht älter als sieben oder acht Jahre, rannte an uns vorbei. Es hatte eine viel zu große Mütze auf dem Kopf, trug ein ursprünglich mal weißes, jetzt arg verschmutztes Herrenhemd und darunter keine Hose. Noch nicht mal eine Unterhose hatte es an, wie man sehr deutlich erkennen konnte, als das Hemd beim Laufen hinten hochflog und man seinen nackten Po sah. Mit seinen kleinen, vor Dreck fast schwarzen Händen umklammerte es einen zerbeulten Blechnapf, der mit Bohnenbrei gefüllt war, und bahnte sich hastig den Weg durch die Menge. Dem kleinen Mädchen folgte eine alte Frau, die einen zerlumpten Rock und ein Kopftuch trug. Ich erkannte, dass ihr an der rechten Hand zwei Finger fehlten, aber damit besaß sie immer noch mehr Finger als Zähne.
    Das Mädchen sah sich nach der Alten um und lief gegen die Beine eines Passanten, der laut auffluchte, ob es denn nicht verdammt noch mal aufpassen könne und dass er es an einem Laternenmast aufhängen würde, wenn es um den Strick nicht zu schade wäre. Die alte Frau schaffte es dadurch aufzuholen. Das kleine, ausgehungerte Wesen rannte panisch noch ein paar Schritte weiter, aber die Alte hielt es am Hemdzipfel fest, wodurch es ins Stolpern kam,

Weitere Kostenlose Bücher