28 Tage lang (German Edition)
durch Pullover und Bluse gegen meine linke Brust. Mit meiner rechten Hand würde ich sie ziehen und auf die Soldaten schießen.
Wir gingen ein paar Straßen weiter und trafen auf eine Menge von vielleicht hundert Juden, die von SS -Soldaten zum Umschlagplatz geführt wurden. Die Gesichter der Verurteilten waren leer, ihre Hoffnung zu überleben war schon vor langer Zeit erloschen. Sie fügten sich in das ihnen von den Deutschen zugedachte Schicksal.
Wir gingen mit erhobenen Händen zu der Menge, damit die SS glaubte, wir wären auch nur ganz normale Juden, die sich ergaben. Die Soldaten bedeuteten uns, dass wir uns der Prozession in den Tod anschließen sollten. Ich blickte dabei zu Boden. Weder wollte ich den Menschen ins Gesicht sehen, auf die ich in wenigen Minuten schießen sollte, noch genau wissen, wie die Männer aussahen, die mich umbringen würden.
Wie abgesprochen verteilten wir uns in der Menge. Mordechai ging nach vorne, Amos eher in die Mitte des Zuges, ich ebenfalls, allerdings ein paar Meter von ihm entfernt, und Michal und Miriam ordneten sich weiter hinten ein.
Wir gingen gemeinsam mit den Todgeweihten durch die Kälte. Ich fühlte mich nicht bleiern beschwert, wie damals, als ich beim Kessel in Richtung Umschlagplatz marschierte, sondern angespannt. Gleich würde ich töten. Und sterben. Das Blut klopfte so heftig in meinen Schläfen, dass ich es hören konnte, und ich befürchtete, meine Adern könnten platzen.
Beim Gehen starrte ich auf Mordechai in der Erwartung seines Signals zum Angriff. Ich versuchte, es unauffällig zu tun, aber eigentlich war es auch egal. Die SS -Leute beachteten uns ohnehin nicht. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass von ihrem Schlachtvieh irgendeine Gefahr ausgehen würde. Hunderttausende Juden hatten sich schon ins Gas schicken lassen, ohne sich zu wehren, warum sollte das bei den letzten paar tausend Bewohnern des Ghettos anders sein?
Als wir an die Ecke Ziska und Zamenhof kamen, drehte Mordechai sich zu Amos um und nickte ihm zu. Ich hielt den Atem an. Amos griff in seine Jackentasche, holte blitzschnell seine Handgranate heraus, zog deren Ring und warf sie auf zwei deutsche Soldaten. Bevor die reagieren konnten, bevor überhaupt irgendjemand reagieren konnte, explodierte die Granate und zerfetzte die SS -Männer.
Der Knall erschreckte mich, und ich kniff die Augen zu, obwohl ich auf die Granate vorbereitet gewesen war. Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich zu Amos, der seinerseits auf die toten Soldaten blickte. Auch er brauchte einen Moment, um zu realisieren, was er gerade getan hatte. Er hatte SS -Männer getötet!
Aus Mordechais Richtung hörte ich Schüsse. Ich drehte mich um. Er hatte seine Pistole in der Hand und feuerte auf Soldaten. Zwei von ihnen fielen in den Schnee.
Die Menge rannte panisch auseinander. Auch aus Amos’ Richtung hörte ich jetzt Schüsse. Die Soldaten schrien: «Die Juden haben Waffen! Die Scheißjuden haben Waffen!»
Hinter mir schossen auch Michal und Miriam auf die SS .
Und die Deutschen feuerten zurück!
«Miriam!», schrie Michal.
Sie antwortete ihm nicht.
Ich blickte nach hinten. Aber in dem Gewühl von fliehenden Menschen konnte ich weder Michal noch Miriam erkennen. Ich hörte weitere Schüsse. Und wie Michal schrie. Die Deutschen hatten auch ihn getroffen.
Beide tot. Beide tot. Beide tot. Mehr konnte ich nicht denken. Beide tot.
Ich sah wieder zu Mordechai. Der ging zielstrebig mit gestreckter Pistole direkt auf drei Soldaten zu und schoss und schoss und schoss. Als sein Magazin leer war, warf er die Waffe weg, beugte sich über einen toten SS -Mann, schnappte sich dessen Pistole und schoss weiter.
Und ich hatte immer noch keinen einzigen Schuss abgefeuert. Noch nicht mal meine Waffe gezückt. Wenn ich es tun würde, das war von Anfang an klar, würde ich sofort zur Zielscheibe der Soldaten werden, die hektisch versuchten ihre Angreifer in der Menge auszumachen.
Amos schrie auf.
Panisch sah ich zu ihm. Er war am Arm verletzt. Noch nicht tot. Nicht tot!
Jetzt zückte auch ich meine Pistole. Ich wusste aber nicht, wohin ich schießen sollte. Zwischen mir und den Soldaten flohen lauter verzweifelte Juden. Die durfte ich nicht treffen.
Ich rannte zum Bordstein, dort lagen die SS -Leute, die Mordechai niedergemäht hatte. Ihr Blut vermischte sich mit dem Schnee zu einem rotweißen Matsch. Vor mir krabbelte ein verletzter junger Soldat. Keine Ahnung, ob er ein Lette, Deutscher oder Ukrainer war, aber er
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