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28 Tage lang (German Edition)

28 Tage lang (German Edition)

Titel: 28 Tage lang (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Safier
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jemanden, der einen töten wollte, Opfer zu nennen? – ein schemenhaftes Wesen. Dafür hatte ich den jungen Soldaten mit dem Engelsgesicht noch klar vor Augen, wie er um Gnade bettelte und von seiner Marlene redete. Das Engelsgesicht des Soldaten vermischte sich mit dem Schemen von dem Mann, den ich erschossen hatte, zu einem diffusen Bild von einem Menschen. Und je mehr dieser Mensch in meiner Phantasie Gestalt bekam, desto schlechter ging es mir. Er rief ebenfalls nach einer «Marlene».
    Auch wenn ich gar nicht darüber nachdenken wollte, konnte ich nicht anders, als mich zu fragen, ob der Mann, den ich getötet hatte, eine Freundin oder eine Frau hatte, eine, die um ihn trauern würde, oder gar ein Kind, das nun ohne seinen Vater aufwachsen musste.
    Am liebsten hätte ich mich gleich wieder übergeben.
    Doch dann riss ich mich zusammen. Ihm war es doch auch egal gewesen, ob die Menschen, die er zum Umschlagplatz getrieben hatte, jemanden liebten oder ob sie von jemandem geliebt wurden. Das war es: Es war den Deutschen egal, dass wir Menschen waren. Wenn wir Menschen für sie wären, würden sie uns nicht so einfach töten können. Wenn ich gegen sie kämpfen wollte, durften sie also auch für mich keine Menschen mehr sein. Keine Opfer meiner Taten. Nur eben Dämonen, die aus der Hölle entstiegen waren. Dämonen, die auch Engelsgesichter haben konnten.
    Ich verdrängte das Gesicht des SS -Mannes aus meinen Gedanken und sah vor meinem geistigen Auge nur noch eine mörderische Höllenfratze. So war es ein bisschen besser, ich musste wenigstens nicht schon wieder spucken. Aber etwas essen konnte ich noch lange nicht.
    Ich legte mich hin, früher als üblich. Nach diesem Tag besaß ausnahmsweise jeder Verständnis dafür, dass ich müde war. Sonst war es als Kämpfer verpönt, Schwäche zu zeigen, Angst oder, noch schlimmer, Zweifel, ob das, was wir taten, überhaupt Sinn ergab.
    Bevor ich die Augen schloss, sah ich noch einmal rüber zu der Ecke, in der Michal und Miriam immer geschlafen hatten. Mit Michal gab es wieder einen Menschen weniger auf der Welt, der liebte. Und Miriam würde nie eine Professorin werden. Wie vielen Menschen hätte sie etwas beibringen oder sie mit ihrer Stimme anrühren können? So viele Lieder, die niemals mehr gesungen wurden. So viele Geschichten, die Hannah nie erzählen würde. So viele Träume. So viel Liebe. Für immer verloren.
    Durch meine geschlossenen Lider flossen die ersten Tränen. Ich kämpfte dagegen an loszuschluchzen. Die anderen sollten nicht hören, wie traurig ich an diesem Tag des Triumphes war. Aber ganz zurückhalten konnte ich die Tränen nicht. Und so ließ ich sie leise über meine Wangen laufen.
    Normalerweise wäre ich wieder, wie fast jede Nacht, in die Welt der 777  Inseln gereist, um Trost zu suchen. Aber ich zögerte. Wie sollte ich meiner kleinen Schwester erklären, dass ich jemanden umgebracht hatte? Einen Menschen und nicht irgendein Phantasiewesen wie den Eisdrachen Fafnir, der die Erdmänncheninsel in ewiges Eis gelegt hatte und den wir mit Hilfe der Feuerelfen zur Strecke gebracht hatten.
    Die kugelrunden Erdmännchen hatten darauf uns zu Ehren ein großes Fest gegeben, auf dem wir die ganze Nacht tanzten, bis uns die Füße weh taten oder, im Fall von Kapitän Karotte, die Pfoten.
    Während Hannah mit dem wahrlich enorm kugelrunden König der Erdmännchen einen Erdmännchentanz aufführte, lachte sie: «Hier sind wir Helden. Und auf der Insel der Fragezeichen können sie uns nicht ausstehen.»
    Kapitän Karotte, der galant ein Erdmännchenweibchen um sich herumwirbelte, erwiderte: «Du hättest ihrem obersten Kirchherren, dem Questionare, nun mal nicht gegen den Fragezeichenpunkt treten sollen.»
    Ein Held zu sein war also relativ. Je nachdem wo man war. Auf der Erdmänncheninsel oder auf der Fragezeicheninsel. Oder eben im Ghetto. Hier war ich in den Augen meiner Mitkämpfer eine Heldin. Und fühlte mich dennoch elend.
    Hannah würde es gewiss schrecklich finden, dass ich einen Menschen erschossen hatte.
    Oder würde sie es vielleicht akzeptieren, wenn ich ihr erklärte, dass sie tot war und ich sie rächte? Dass ich das alles tat, damit ihr Tod und ihr Leben einen Sinn ergaben?
    Doch wenn sie erfahren würde, dass sie in der wirklichen Welt gar nicht mehr lebte, würde sie dann nicht auch in meiner Phantasie sterben wollen? Welchen Sinn könnte sie darin sehen, ein Hirngespinst zu sein?
    Nein, sie durfte nicht hören, dass sie gestorben war.

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