28 Tage lang (German Edition)
Dann würde ich sie endgültig verlieren.
Ich war aber auch nicht imstande, sie anzulügen. Daher reiste ich das erste Mal seit Wochen vor dem Einschlafen nicht in die Welt der 777 Inseln. Stattdessen weinte ich mich leise in den Schlaf und wurde von Albträumen geplagt. Ich träumte von jenem Augenblick, in dem der junge Deutsche um Gnade gefleht hatte. Aber im Traum war es nicht der Deutsche, der da in SS -Uniform vor mir auf dem Boden kroch, es war mein Bruder Simon.
Meine Hand zitterte wieder, ich wusste nicht, ob ich abdrücken sollte oder nicht.
Simon hörte mit einem Mal auf zu flehen, zückte eine Pistole und richtete sie auf mich. Wenn ich ihn nicht erschoss, dann würde er mich töten, das war klar. Also drückte ich ab, und Simon sackte zu Boden. Genauso wie der SS -Mann, den ich umgebracht hatte.
Ich beugte mich über meinen toten Bruder, und er verwandelte sich vor meinen Augen in das Baby, das ich auf dem Umschlagplatz zurückgelassen hatte.
Ich schrie. Und schrie und schrie und wachte auf. Mit rasendem Herzen.
Hastig sah ich mich in der Dunkelheit des Bunkers um – alle schliefen. Also hatte ich wohl nur im Traum geschrien.
Ich starrte gegen die schwarze Wand aus Erde. Ein unendliches dunkles Nichts. Ich hatte niemanden auf der Welt. Nur Hannah. Und die auch nur in meiner Phantasie von den Inseln, die ich noch nicht mal mehr betreten mochte. Dafür brachte ich meinen Bruder, an den ich seit Wochen nicht mehr gedacht hatte, im Traum um. Und ein Baby. Und einen Soldaten im echten Leben. Ich fragte mich, ob ich nicht langsam, aber sicher verrückt wurde.
42
Es war mein siebzehnter Geburtstag. Er war so unwichtig für mich, dass ich niemandem davon erzählte. Vier Tage nach der Schießerei stoppte die SS die Aktion. Dass Juden Soldaten getötet hatten, hatte die Deutschen bis ins Mark getroffen. Auch wenn Esther mich und die anderen Überlebenden unserer Schießerei in ihrer Ansprache nicht als Helden bezeichnet hatte, die Widerstandsblätter taten es: «In der dunkelsten Stunde des jüdischen Volkes verloren unsere Heroen nicht ihren Mut und schlugen zurück.»
So oder so ähnlich wurden wir gefeiert. Natürlich stand nirgendwo, wie schlecht mir nach der Tat gewesen war oder dass Michal nie mehr lieben und Miriam nie mehr singen würde. Dafür war kein Platz in der Heldengeschichte.
In den folgenden Wochen wurde ich von Tag zu Tag stolzer auf meine Tat. Nicht etwa, weil ich zur Heldin gemacht wurde, sondern weil unser Widerstand das Ghetto verändert hatte. Waren die Juden vorher alle niedergeschlagen und dem Schicksal ergeben gewesen, ging jetzt ein Ruck durch die Bevölkerung. Jeder wusste, die Deutschen würden wiederkommen und es würde schrecklich werden, doch wir hatten bewiesen, dass man sich wehren konnte. Viele junge Juden schlossen sich dem ŻOB an. Auch die Menschen, die nicht kämpfen wollten, waren nicht mehr bereit, sich wie Schlachtvieh in den Tod schicken zu lassen. Überall wurden in den Kellern geheime Bunker gebaut, in denen die Zivilbevölkerung sich vor den Deutschen verstecken konnte. Wer vor dem Krieg auch nur ein Semester Architektur studiert hatte, war mit seinem Wissen gefragt. Einige Bunker besaßen Wasserversorgung, Elektrizität, sogar Telefon. Es entstand eine Stadt unter der Stadt.
Die deutschen Übermenschen ließen sich in den Straßen kaum noch blicken, schon gar nicht nach Einbruch der Dunkelheit. Kaum gab es Gegenwehr, bekamen sie es mit der Angst zu tun. Was für Feiglinge.
Der ŻOB oder die Partei, wie der Kampfbund nun überall genannt wurde – die Unterschiede zwischen den alten Gruppierungen waren mittlerweile so gut wie bedeutungslos –, hatte die Kontrolle über das Ghetto übernommen. Die Marionetten des Judenrates konnten ihren deutschen Puppenspielern nur noch melden, dass es egal war, an welchen Fäden sie auch zogen, wie sehr sie die Marionetten hampeln ließen, es hatte keinerlei Einfluss mehr auf die Bevölkerung.
Erschießungen von Kollaborateuren waren an der Tagesordnung, und kein SS -Soldat, kein Judenpolizist konnte sie aufhalten. An diesen Tötungskommandos war ich allerdings nicht beteiligt. Das war auch gut so. Ich war eine Heldin, der es erst mal reichte, einen Soldaten umgebracht zu haben. Mir war aber natürlich klar, dass ich wieder töten müsste, wenn die Deutschen zurückkämen, um das Ghetto endgültig zu räumen. Bis dahin müsste ich gelernt haben, sie nicht mehr als Menschen zu sehen, sondern eben als Dämonen.
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