28 Tage lang (German Edition)
besaß ein ganz zartes Gesicht, wie ein Engel, und er sagte irgendetwas, was ich nicht verstand. Wollte er Hilfe? War es ein Gebet?
Ich richtete meine Waffe auf ihn. Er blickte zu mir hoch. Flehentlich. Er wollte nicht sterben.
Warum erhoffte er von mir Gnade? Er hätte mir doch auch keine gewährt. Das Schwein. Mit Engelsgesicht. Meine Hand zitterte. Ich wollte abdrücken. Ich musste.
Der Soldat begann zu weinen, sagte irgendwas auf Deutsch und dann: «Marlene …»
Wie Marlene Dietrich aus den amerikanischen Filmen. Der Name seiner Freundin oder seiner Frau? Vielleicht der seiner Tochter? Oder war er zu jung, um Vater zu sein? Meine Hand zitterte noch mehr. Der Soldat weinte. Ich krümmte meinen Finger, um abzudrücken. Da hörte ich Mordechai schreien: «Mira, hinter dir!»
Ich drehte mich um. Ein großer, bulliger SS -Mann stand keine drei Meter entfernt und hatte seine Pistole auf mich gerichtet.
Ich schoss sofort.
Der Mann brach zusammen. Leblos in den Schnee.
Ich wollte mich sofort übergeben.
Mordechai packte mich an den Schultern und schrie mir ins Ohr: «Renn!»
Wir beide rannten los. Der verletzte Amos auch. Die beiden Männer schossen dabei auf die SS -Leute, die vor lauter Angst zurückwichen. Wir rannten zwei Straßen weiter, da rief Mordechai: «Hier! In das Haus!»
Wir liefen hinein, die Treppen hoch. Ich konnte kaum noch atmen, Amos blutete wie ein Schwein, sein Jackenärmel war schon fast durchtränkt, aber Mordechai trieb uns immer weiter. Wir erklommen über eine Holzleiter den Dachboden und rannten von diesem durch ein Loch auf den nächsten Dachboden und von dem wiederum weiter durch ein weiteres Loch ins nächste Haus. Der Widerstand hatte damit begonnen, solche Fluchtwege zwischen den Gebäuden zu schaffen. Eine Art Straßensystem über den eigentlichen Straßen. Doch Dachböden waren keine sicheren Verstecke, so rannten wir in einem der Häuser wieder die Treppen hinunter in einen geheimen Kellerbunker, wo wir uns im Dunkeln erschöpft auf den Boden warfen. Ich erbrach mich. Mordechai band Amos’ blutenden Arm ab. Keiner von uns sprach ein Wort. Wir waren am Ende und gleichzeitig völlig aufgedreht. Schließlich begann Amos zu lachen. Ein bisschen hysterisch. Mordechai stimmte ein. Auch hysterisch. Und ich lachte erst mit und dann weinte ich. Um Miriam und Michal.
Wir umarmten uns alle drei, jeder von uns traurig und glücklich zugleich. Traurig, weil wir Kameraden – Freunde – verloren hatten. Glücklich, weil wir lebten. Und wir SS -Männer getötet hatten. Juden hatten Deutsche getötet. Nichts würde mehr so sein wie zuvor!
41
Esther sprach im Bunker ein paar Worte im Gedenken an die Toten. Sie tat das anstelle von Mordechai, der sich in einem anderen Teil des Ghettos mit den Spitzen des ŻOB traf, um die neue Lage zu besprechen: Die Deutschen hatten sich dank uns – UNS ! – für den Tag aus dem Ghetto zurückgezogen.
Esther erklärte in ihrer kleinen Ansprache, dass Miriam und Michal für eine gute Sache gestorben waren, ihr Tod andere inspirieren würde und wir alle sehr stolz auf sie sein könnten. Sie konnte wirklich gut reden, angemessen, mit ruhiger und fester Stimme, in der kein Hauch von falschem Pathos lag. Die Toten, so erklärte sie uns, waren keine einfachen Toten, sie waren Gefallene. Und sie waren Helden. Und damit waren, selbst wenn Esther es nicht direkt aussprach, auch wir anderen, die auf die Deutschen geschossen hatten, Helden.
Am Ende ihrer Ansprache überraschte Esther mit einer persönlichen Erinnerung: In einem Sommerlager hatte Miriam am Lagerfeuer ein so wunderschönes trauriges Lied gesungen, dass alle anderen Kinder weinen mussten – selbst die älteren Mädchen wie Esther, die sich für ganz abgeklärt hielten.
Das überraschte mich. Ich hatte keine Ahnung, dass sich Esther und Miriam schon lange kannten. Auch konnte ich mir Esther gar nicht gerührt vorstellen. Vor allem aber wusste ich nicht, dass Miriam eine wunderschöne Singstimme besessen hatte. Sie hatte in all der Zeit nie gesungen. Kein einziges Mal. Wir hier im Bunker wussten kaum etwas über die früheren Leben der anderen.
Nachdem Esther ihre kleine Ansprache beendet hatte, aßen wir Abendbrot. Oder besser gesagt, die anderen aßen, ich bekam keinen Bissen herunter. Mir war immer noch übel. Ich hatte einen Menschen getötet. Es war so schnell gegangen, dass ich nicht mal sein Gesicht gesehen hatte. In meiner Erinnerung war mein Opfer – war es überhaupt richtig,
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