282 - Der Schein trügt
London, behauptet hatten. Und dass er mit den Barbaren fertig geworden war, zeigte doch, dass er auch geistig auf der Höhe war. Rulfan konnte es kaum abwarten, ihn endlich zu sehen.
Am Spätnachmittag kamen auch Sarah Kucholsky und Sir Ibrahim Fahka zurück. Rulfan hatte es sich auf einer Bank in der Sonne gemütlich gemacht und ein wenig gedöst, als Eve die beiden zu ihm brachte. Sie freuten sich sehr über Rulfans Ankunft und interessierten sich brennend für sein Luftschiff. Als Rulfan aber erzählte, dass es nur für die Traglast eines Menschen ausgelegt sei, schien ihr Interesse schlagartig zu verebben.
Kurze Zeit später wurde das Geräusch eines alten Motors, der immer wieder Fehlzündungen produzierte, hörbar. Sir Leonard Gabriel kehrte zurück. Der Prime lenkte ein altes Motorrad mit Seitenwagen! »Eine Zündapp KS 750«, wie er stolz bemerkte. »Durch den Rückwärtsgang und das angetriebene Seitenwagenrad absolut geländegängig.«
Die Begrüßung von Vater und Sohn fiel herzlich aus. Schließlich hatten sie sich jahrelang nicht mehr gesehen. Beide umarmten sich lange. Rulfan musste sich dabei an den Anblick des fehlenden Fingers gewöhnen; der Prime hatte eine Lederkappe über den Stumpf gezogen.
»Wie ist das passiert?«, erkundigte er sich.
Ein finsterer Zug schlich sich in Leonard Gabriels Gesicht. »Es waren die Schatten, Junge. Sie haben mir den Finger gestohlen, und ich weiß nicht, was sie damit bezwecken.«
»Vielleicht waren sie hinter deinem Siegelring her«, mutmaßte Rulfan. »Aber es muss dich nicht sorgen - die Schatten gibt es nicht mehr. Matt Drax und Aruula haben sie vernichtet.«
Dabei ahnte er nicht, wie genau er mit seiner Vermutung ins Schwarze traf. Aber nicht die Schatten hatten den Finger mit dem Ring abgebrochen, sondern Matthew Drax - um die Demokraten in London von Gabriels Tod zu überzeugen und Rulfans Herausgabe zu fordern. Er hatte damals nicht ahnen können, dass die Geisel der abtrünnigen Technos längst geflohen war. Und er hatte es vermieden, Rulfan über die Sache mit dem Finger aufzuklären, nachdem davon ausgegangen werden konnte, dass die Versteinerten wieder lebten.
Leonard stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. »Ich sollte mich nicht beklagen. Einige von uns wurden in der Versteinerung zerbrochen und haben ihr Leben nicht zurückerhalten. Ich dagegen musste nur den Finger opfern.«
Leonard Gabriel ließ sich berichten, was Rulfan hierher geführt hatte, dabei schien er in Gedanken jedoch ganz woanders zu sein. »Was sagtest du gerade?«, war eine häufiger wiederkehrende Redewendung, die Rulfan zunehmend nervte.
»Bist du überhaupt bei der Sache, Dad?«, fragte der Albino schließlich scharf. »Komme ich ungelegen? Halte ich dich von irgendwelchen wichtigen Dingen ab?«
»Oh, entschuldige. Ich wollte nicht unhöflich sein. Aber ich muss tatsächlich heute noch einige dringende Sachen für Gundar in der näheren Umgebung erledigen, für die ich Sarahs und Ibrahims Unterstützung brauche. Lass uns das noch tun, dann werden wir uns morgen in aller Ausführlichkeit unterhalten. Natürlich interessiert mich das alles brennend. Aber die Freundschaft zu Gundar ist wichtig. Ich gedenke ihn irgendwann als Inselherrscher zu beerben und Guunsay zur neuen Community unter meiner Leitung zu machen. Die Chancen dafür stehen recht gut.«
Rulfan wusste genau, wie schwer es seinem Vater fiel, in einer Gemeinschaft zu leben, ohne deren Oberhaupt zu sein. Deswegen sagte er nichts zu den Machtübernahmeplänen. Wenn sie friedlich vonstatten gingen, warum nicht? Der Albino stellte bisher nicht die geringsten tyrannischen Strömungen im Wesen seines Vaters fest. Hatten ihn die Demokraten also belogen - oder hatten sie sich mit dem Wiedererwachen verflüchtigt, so wie Eve behauptete?
Leonard bot Rulfan die Zündapp an, falls er Lust verspüren sollte, die Insel zu erkunden. Dann verabschiedete er sich und ging mit Sarah Kucholsky und Sir Ibrahim Fahka davon.
Nun hatte Rulfan wieder Eves ungeteilte Aufmerksamkeit, denn die sechs Menschen, die sich sonst noch im Dorf aufhielten, schienen keinerlei Lust zu verspüren, mit ihm in Kontakt zu kommen. Um ihr gleich klarzumachen, wo er beziehungstechnisch stand, erzählte er ihr von Myrial und dem Kind, das sie erwartete. Die Psychologin nahm es verständnisvoll zur Kenntnis.
»Ich denke, dass du von der langen Reise ziemlich müde bist«, sagte sie schon bald. »Schlaf dich erstmal richtig aus. Ich muss ohnehin noch
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