286 - Der körperlose Herrscher
allmählich, ob sie überhaupt noch das Sagen in Neu-Martok'shimre hat.«
Sie alle erinnerten sich gut an den triumphalen Einzug von Sar'kir in Hykton. Die Mar'os-Herrscherin war zu Verhandlungen gekommen und hatte sich als überraschend umgänglich entpuppt - bis ein Tentakelmonster die Verhandlungen gestört und E'fah entführt hatte. [7] Sar'kir war daraufhin in ihre Stadt zurückgekehrt; um ihre Untergebenen zu warnen, wie sie damals sagte. Seitdem hatten sie nichts mehr von ihr gehört. Zwischen den beiden Städten war der ohnehin spärliche Kontakt vollkommen abgerissen.
»Soll ich Kal'rag informieren?«, bot sich Quart'ol an.
Gilam'esh stieß sich aus seinem bionetischen Sitz. »Lass gut sein. Ich schwimme selbst. Es wird Zeit, dass ich mich wieder mehr um die Belange der Stadt kümmere und auch zu den Pilgern spreche, die meinetwegen hierher kamen. Das bin ich ihnen wohl schuldig. Und ich werde noch einmal versuchen, mit Sar'kir Kontakt aufzunehmen. Wir müssen einen Krieg um jeden Preis verhindern.«
Quart'ol sagte nichts, denn er sah das energische Funkeln in Bel'ars Augen. Seine Freundin war eine Freundin der Menschen und zu recht empört über das barbarische Vorgehen der Mar'os-Jünger. Wenn sich tatsächlich herausstellte, dass die Mar'osianer Menschen fingen und wie in alten Zeiten fraßen, konnte das die Welle sein, die einem Seebeben vorausging.
Seit Entstehen der Mar'os-Stadt keinen Schwimmtag von Hykton entfernt gab es Vorbehalte gegen deren Bewohner. Viele Hydriten fürchteten, die Mar'osianer seien langfristig auf einen Krieg und eine Unterwerfung Hyktons aus, um den alten Blutkult wieder aufleben zu lassen. Sie wollten dieser Bedrohung vorbeugen, indem sie ihrerseits angriffen. Vielleicht waren die jüngsten Entwicklungen für einige der Anlass, Neu-Martok'shimres Antlitz für immer vom Grund des Schelfs zu tilgen.
***
Neu-Martok'shimre, bionetisches Labor
Mer'ol drückte sich gegen die Außenwand des Labors, das tief im Schelf verborgen lag. Nicht einmal die meisten Bewohner der Stadt wussten davon. Die Mar'os-Jünger verzichteten traditionell auf Bionetik und setzten auf ihre eigenen Kräfte. Vor Urzeiten hatten sie durch das Anschwellen der Tantrondrüse ihr technisches Geschick verloren und aus der Not eine Tugend gemacht.
Es galt als ehrenhaft, mit eigener Körperkraft und der von Reitfischen wie den Sord'finns zu arbeiten. Das Verwenden von Bionetik dagegen war unehrenhaft und nach den Gesetzen und Überlieferungen von Mar'os ein Zeichen der Schwäche. Erst die Herrscherin Sar'kir hatte den großen Nutzen der Bionetik erkannt und einen Teil der Stadt mit ihrer Hilfe herangezüchtet.
Was aber in den Laboren vor Mer'ol lag, war keine einfache Bionetik. Es war hochgezüchtetes Material und somit ein Seeigelstachel in der Schuppenhaut der Traditionellen.
Der Hydrit starrte durch ein Sichtloch, das so groß wie ein Bullauge war, in das Labor hinein. Fünf kopfgroße bionetische Leuchtkugeln erhellten das Wasser, als stünde die Sonne über ihnen am Zenit. Mehrere Zuchtbänke waren an den Seitenwänden angebracht, die er gern aus nächster Nähe gesehen hätte. Er konnte ihren Inhalt von seiner Position aus nicht erkennen, ging aber aufgrund der Beschaffenheit der Zuchtbänke davon aus, dass es sich um bionetisches Material handelte, das spezieller Bedingungen bedurfte.
Was dagegen sofort ins Auge stach, war die verhüllte Seespinne, doppelt so hoch wie ein Hydrit. Eben schwamm Quesra'nol vom anderen Ende des Labors in sein Blickfeld und zog an dem grünen Algenvorhang, der wie ein Teppich über der Spinne lag. Das Gewebe glitt zur Seite und gab einen kugelrunden Leib auf sechs langen Beinen preis. Die Spinnenbeine wirkten hart und glänzten wie die Panzer von Hummern. Der Leib in der Mitte war an der Vorderseite mit einigen sensorischen Gerätschaften bestückt und im Umfang mit zwei Armen nicht zu umfassen.
Mer'ol sah die Spinne nicht zum ersten Mal und trotzdem erfüllte sie ihn mit Furcht. Als Wissenschaftler ahnte er, wozu sie geschaffen wurde. Bionetisches Material wie dieses ließ sich besonders leicht bewegen. Noch verstand er nicht, wie genau es funktionieren sollte, aber er war sicher, dass dies hier ein Fortbewegungsmittel für Mutter war. Das mental begabte Steinwesen suchte nach einer Möglichkeit, sich aus eigener Kraft zu bewegen.
Wieder musste er daran denken, dass Mutter nichts mit den Hydriten der Meere zu tun zu haben schien. Sie legte keinen Wert auf den
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