2898 - Leichen brauchen kein Alibi
bemerkte die SIG zwischen einigen leeren Konservendosen und reichte sie meinem Freund.
»Was ist denn überhaupt geschehen, Phil?«
»Es ging alles so verflucht schnell, Jerry. – Also, ich sah, dass Jim Stanton über die Feuertreppe verschwinden wollte. Also machte ich mich bereit, um ihn hier unten zu empfangen. Wen ich nicht bemerkte, war dieser Obdachlose da drüben. Er wachte plötzlich aus seinem Rausch auf, erhob sich und torkelte herum. Genau in diesem Moment sprang Stanton von der Feuerleiter und schoss in meine Richtung. Ich konnte den Wermutbruder gerade noch von den Beinen reißen, damit er nicht getroffen wird. Aber er schlug wild um sich. Ich knallte mit dem Kopf gegen die Hauswand und muss einen Moment lang weggetreten sein.«
»Ja, du warst kurz bewusstlos. Dann hast du dir also keine Kugel eingefangen?«
»Nein, Unkraut vergeht nicht. Und deine nächste Frage ahne ich schon, Jerry. Nein, ich muss mich nicht im Hospital durchchecken lassen. Wir sollten lieber für den armen Teufel dort eine Ambulanz anfordern. Der muss dringend ausnüchtern, sonst stirbt er noch in dieser elenden Gasse.«
Ich nickte, griff nach meinem Handy und rief die Notrufzentrale an. Natürlich war ich erleichtert, dass Phil nicht schwer verletzt war. Er blutete noch nicht einmal am Kopf. Vermutlich würde ihn später nur eine Beule an diese misslungene Verhaftung erinnern.
Aber trotzdem blieb die Tatsache bestehen, dass Jim Stanton uns entwischt war. Und ich hatte momentan keine Ahnung, wo wir ihn jetzt suchen sollten. Phil und ich warteten noch auf den Krankenwagen und übergaben den Obdachlosen in die Obhut des Notarztes und der Sanitäter. Dann veranlasste ich, dass ein Team der Spurensicherung die Wohnung von Judy Nolan überprüfte. Vielleicht hatte Jim Stanton ja einen Hinweis auf seinen möglichen Aufenthaltsort hinterlassen. Trotz der nächtlichen Stunde rückte ein Bereitschaftsteam der SRD schnell an.
Phil und ich fuhren zum Field Office zurück. An Schlaf war jetzt ohnehin nicht zu denken. Wir genehmigten uns nur schnell einen starken Kaffee, um fit zu bleiben. Dann gingen wir zu June Clark und Blair Duvall, die mit der verhafteten Judy Nolan in einem Verhörraum auf uns warteten.
Unsere blonde Kollegin nahm uns draußen auf dem Flur kurz beiseite.
»Blair und ich haben die Barkeeperin noch nicht ausgiebig befragt, schließlich ist der Reed-Mord euer Fall. Aber meiner Meinung nach ist diese Judy Nolan in die Sache mehr oder weniger hineingeschliddert. Wir haben ihren Namen schon durchs System gejagt. Sie ist bisher weder bei uns noch beim NYPD oder einer anderen Polizeibehörde auffällig geworden. Judy Nolan ist ein richtiges Landei, sie stammt aus einer Kleinstadt in Wyoming und lebt erst seit einem Jahr hier in New York. Ich könnte mir vorstellen, dass Jim Stanton sie nur manipuliert und für seine Zwecke ausgenutzt hat.«
Ich dankte der Kollegin für die Vorarbeit. Phil und ich betraten nun den Verhörraum, während sich Blair verabschiedete.
»June und ich treten jetzt unseren verdienten Feierabend an. Bis morgen, Kollegen.«
***
Judy Nolan saß wie ein Häufchen Unglück an dem einzigen Tisch in dem fensterlosen Raum. Sie hatte geweint, das konnte man ihrem hübschen Gesicht deutlich ansehen. Offenbar hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben mit Gesetzesvertretern zu tun. Das Field Office wirkt auf eine solche junge Frau gewiss einschüchternd. Sie war nicht wie die abgebrühten Gewohnheitsverbrecher, die sich in einem Verhörraum so heimisch fühlen wie in ihrem eigenen Wohnzimmer.
Ich hatte Judy Nolan nur flüchtig gemustert, als wir in dem Nachtclub gewesen waren. Nun schaute ich sie mir genauer an, während Phil und ich ihr gegenüber Platz nahmen. Nachdem ich noch einmal unsere Namen genannt hatte, sagte ich: »Miss Nolan, sind Sie bereits über Ihre Rechte belehrt worden? Es besteht der Verdacht, dass Sie Beihilfe zum Mord geleistet haben.«
Die junge Frau riss ihre schönen Augen noch weiter auf. Einen Moment lang sah es so aus, als ob ihr wieder die Tränen kommen würden. Aber dann riss sie sich doch zusammen.
»Ja, Ihre Kollegen haben mir meine Rechte verlesen. Aber ich verstehe das alles überhaupt nicht, Agent Cotton. Ich glaubte, die Sache mit dem Anruf wäre nur ein schlechter Scherz, den Jim sich erlauben wollte.«
»Mit Jim meinen Sie Jim Stanton?«, vergewisserte ich mich. Judy Nolan nickte heftig.
»Ja, meinen – Boss.« Ihr Zögern war von mir nicht unbemerkt
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