290 - In den Gärten von Sha'mar
dazu bewegen, an Bord der Gondel zu steigen und gemeinsam mit ihnen nach Osten zu fahren. Er hatte in seinem ganzen Leben noch keinen Zeppelin gesehen, und Matt fragte sich, ob er es wohl mehr als Götterschiff oder Teufelswerk ansah. Der Bursche zitterte immer noch, während er auf einem Stuhl hockte und Xij seine Verletzung behandelte.
Rulfan steuerte mit der ihm eigenen Ruhe, der Kompass erwies sich einmal mehr als wertvolles Instrument inmitten dieses Sumpf-Einerleis, das nun, gegen Abend, noch grauer und eintöniger wirkte. Kaum eine Erhebung, kaum ein Baum und kaum eine Landmarke, die zur Orientierung herangezogen werden konnten.
»Der Induus«, sagte Mowgra mit zittriger Stimme und deutete zum Horizont. »Dort hinten muss er sein. Hoffe ich. Alles sieht so anders aus von hier oben.« Seine Hände um die Reling verkrampft, schloss er die Augen und atmete hastig. Sein ganzer Körper zitterte.
»Ich fürchte, Mowgra ist uns keine große Hilfe«, flüsterte Rulfan Matt zu. »Er ist es nicht gewohnt, die Welt von oben zu betrachten.«
»Kein Problem«, entgegnete Matthew. »Der Indus hat zu meiner Zeit ein riesiges Flussbett besessen - und unzählige Zubringer. Er muss bereits aus großer Entfernung erkennbar sein. Sobald wir ihn ausgemacht haben, folgen wir seinem Lauf nach Norden, wie Mowgra vorgeschlagen hat. Irgendwann müssen wir auf die Ruinenstadt von Sha'mar treffen.«
»Es wird bereits dunkel. In einer Stunde werden wir die Hand nicht mehr vor unseren Augen sehen können. Vor allem, da der Nebel wieder dichter zu werden droht.«
»Mit ein wenig Glück werden wir die Fackeln der Stadt sehen«, sagte Matt unbeirrt. »Oder die der Nohq'was, falls sie noch unterwegs sein sollten.«
»Glück… ich verlasse mich ungern auf Faktoren, die ich nicht selbst beeinflussen kann.«
»Wir hätten es uns weiß Gott verdient. Die ganze bisherige Reise ist eine Aneinanderreihung von Katastrophen.«
»Wir hätten allesamt ein schöneres Leben mit weniger Entbehrungen und weniger Schmerzen verdient. Aber welche Götter auch immer unser Schicksal schreiben, sie meinen es nicht gut mit uns.« Rulfan wandte sich ab und blickte nach Norden. In Richtung Dunkelheit. Nebelschwaden umfingen das Luftschiff und hüllten es allmählich ein.
Allesamt starrten sie ins Leere, in dieses unheimlich wirkende Nichts, das die Landschaft unter ihnen verbarg und jegliche Hoffnung auf eine einfache Verfolgung der Nohq'was zunichtemachte.
***
»Zaraa«, murmelte Mowgra immer wieder. »Zaraa…« Der junge Mann wälzte sich unruhig im Schlaf, von einer Seite zur anderen. Dann verzerrte sich sein Gesicht in kreatürlicher Angst. »Nein, Oguul, nicht!«
»Es ist doch immer wieder dasselbe«, sagte Matt grimmig. »Wie oft sind wir schon auf falsche Götter gestoßen, die den Aberglauben der Menschen ausnutzten? Nicht wenige davon gingen auf das Konto der Daa'muren.«
»Die Daa'muren sind Geschichte.« Rulfan blinzelte in die Dunkelheit. »Doch die menschliche Dummheit ist grenzenlos. Sie sehnen sich nach Führern, die ihnen einen Weg durch diese verkommene Welt weisen, und halten sich nur zu gern an Scharlatane, die Wissen vortäuschen und dabei nur selbstsüchtige Ziele im Auge haben. Es wird Zeit, dass jemand mit diesem Aberglauben aufräumt.«
Rulfan wusste, wovon er sprach. Er war lange fern der Heimat durch die Lande gereist und hatte dabei bittere Erfahrungen gemacht. Auch in Coellen, seiner zweiten Heimat, wo die »Scheußlichen Drei« ein Schreckensregime geführt hatten - bevor es ihm mit Matts und Aruulas Hilfe gelungen war, es zu brechen. [3]
Nun war Rulfan erneut auf Reisen. Wie lange noch? Wurde der über Sechzigjährige nicht allmählich müde, hatte er nicht genug gesehen? In Schottland hatte er eine neue Heimat gefunden; dort warteten Frau und Kind auf ihn. War diese Suche nach Agartha vielleicht sein letztes großes Abenteuer?
Matt sprach seine Gedanken nicht laut aus. Dazu brauchte es eine ruhige Stunde. Keine schwankende Gondel unter einem riesigen Ballonkörper.
»Stopp die Fahrt«, sagte Matt.
»Wie bitte?«
»Es macht keinen Sinn. Wir sehen nicht mehr die Hand vor Augen, geschweige denn den Sumpf unter uns. Wir würden Fackellichter nicht einmal aus einer Höhe von zwanzig Metern erkennen.«
Xij Hamlet trat zu ihnen. »Würde es was bringen, wenn ihr mich an einem Seil unter die Gondel hängt? Dann könnte ich in Bodennähe die Augen offen halten.«
»Schnapsidee«, kommentierte Matt. »Deinen Einsatzwillen
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