290 - In den Gärten von Sha'mar
und die Bewegungen des gegnerischen Insektenheeres. Jener Tierchen, die ohne müde zu werden gegen sie anrannten und sie zu erobern suchten.
Aruula hatte einem Mann beim Sterben zusehen müssen. Er war eingeschlafen, hatte nicht mehr die Kraft aufgebracht, sich gegen die Plagegeister zu wehren. Aruula hatte ihn angeschrien, hatte versucht, eine Reaktion zu bewirken - vergebens. Er hatte sich ihr zugewandt, hatte sie mit leeren Augen angesehen. Lass es bleiben , schien der Blick ihr zu sagen.
Er hatte sterben wollen. Hatte nicht mehr die Kraft aufgebracht, sich zu wehren, dem ständigen Ansturm der Armee kleiner Krabbeltiere zu widerstehen.
Sie hatten ihn bei lebendigem Leib aufgefressen. Er hatte es regungslos hingenommen und am Ende bloß einen Seufzer von sich gegeben. Dann war sein Schädel nach vorne gekippt - und augenblicklich von den Heerscharen der Würmer, Maden und Spinnentieren in Besitz genommen worden.
Aruula packte den Metallsplitter in ihrer Rechten fester. Stunden hatte sie gebraucht, um Hand und Handgelenk aus dem festgetrampelten Erdreich zu lösen, um den Arm abzuwinkeln und hochzuziehen. Die weitere Befreiungsaktion war ihr zunehmend leichter gefallen. Ein wenig noch und sie hatte sich freigestrampelt. Eine halbe Stunde, mehr nicht. Bis zur Hüfte war das Erdreich gelockert. Gut die Hälfte des Aushub-Materials hatte sie hinter sich geworfen, in eine dunkle Ecke, in die niemals Licht fiel.
Die Wächter sahen in unregelmäßigen Abständen nach ihr, und jedes Mal schwitzte sie Blut und Wasser, dass sie ihre freien Arme, die sie wieder in die Kuhlen presste, bemerken würden.
Dann erklangen Geräusche.
Sie hörte Schreie.
Entsetzens- oder Freudenschreie? Die Gewölbe rings um sie verzerrten die Töne. Sie konnte sich nicht sicher sein.
Ein Jünger Oguuls näherte sich. Die Naht, mit der der Buz-Schädel an seinen Kopf geflochten worden war, wirkte frisch. Verkrustetes Blut hatte sich entlang der vielen Stiche angesammelt. Der Mann hatte seine Initiation als Gefolgsmann Oguuls wohl gerade erst hinter sich gebracht.
Aruula ahnte, was an der Erdoberfläche vor sich ging. Ein hässliches Ritual begann. Man würde Gefangene opfern - und sich an ihrem Tod laben.
Komm näher! , dachte sie.
Der Jünger trat zwischen die Eingegrabenen und leuchtete ihnen nacheinander ins Gesicht. Zwei andere Frauen lebten noch, alle anderen waren den Strapazen der letzten Stunden erlegen.
Aruula nahm das Gesicht des Mannes im Widerschein des Feuers wahr. Es zeigte Verwirrung und Entrücktheit zugleich. Was auch immer im Freien geschah - es hatte mit seinem Herrn zu tun.
Aruula versuchte sich zu konzentrieren, um einige Gedankenbilder aufzuschnappen. Es fiel ihr schwer, so erschöpft, wie sie war. Aber dann sah sie klarer.
Die Opferungen würden bald beginnen und um Mitternacht abgeschlossen sein. Das Blut der Unglücklichen würde dem Gott noch mehr Macht verleihen… und ihn von den Fesseln befreien, die ihn angeblich an die Gärten von Sha'mar banden. Aruula war nicht sicher, ob sie diese Gedanken richtig deutete. Ein Gott, der an diesen Ort gebunden war?
Bevor sie näher darüber nachdenken konnte, trat der Jünger an sie heran. »Du bist hässlich«, sagte er unzusammenhängend.
Du hast es gerade nötig , dachte Aruula.
Frisches Blut troff aus frischen Narben entlang seiner Stirn und den Schläfen. Er beugte sich zu ihr herab, hielt ihr eine Fackel vors Gesicht, zeigte sein löchriges Gebiss und lachte böse. »Oguul wird dich und deinesgleichen vom Antlitz dieser Welt tilgen…«
Aruulas Linke zuckte aus der nur noch locker angehäuften Erde, griff blitzschnell zu und zog den Wächter an sich heran. Seine Augen drückten keinen Schmerz, sondern bloß grenzenloses Erstaunen aus, als sie ihm mit der Rechten den Metallsplitter in die Schläfe rammte. Der Jünger öffnete den Mund, um zu schreien, aber es kam nur ein Gurgeln daraus hervor.
Dann kippte er tot zur Seite.
Aruula verschwendete keinen weiteren Gedanken an ihn. Sie genoss es nicht, zu töten, aber in diesem Fall war es eine Notwendigkeit gewesen.
Immer noch im Erdreich steckend, griff sie nach der Fackel, die der Mann hatte fallen lassen, und rammte sie neben sich in die Erde. Sie schenkte Wärme, die sie so lange vermisst hatte. Die Krabbeltiere wichen zurück. Sie fürchteten Licht und Hitze und ahnten wohl, dass sie eben eines sicher geglaubten Opfers verlustig gingen.
Das Schwert des Wächters… es war armlang und besaß ein breites
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