294 - Der Keller
dünn wie ein Gerippe, armes Kind! Wäre ich einen Tag später gekommen, ich hätte dir nur noch ein Begräbnis schenken können. Nun aber genug. Du hast getrunken. Das war wichtig. Als Nächstes brauchst du ein Bad und frische Kleider. Man wird dir auch die Nägel an den Händen und den Zehen schneiden, damit du dich nicht selbst verletzt. Aber gemach, gemach… Ich darf dir nicht zu viel auf einmal zumuten. Was bin ich nur für ein Narr? Aber es ist die pure Freude, dich am Leben zu sehen!«
Jurgis sah, wie der Mann sich zurückzog und anderen, weniger freundlichen Gestalten Platz machte.
»Tragt ihn hinaus! Aber seid vorsichtig, er ist zerbrechlich wie eine gläserne Blume! Jede Grobheit kann ihn töten…«
Jurgis schrie vor Schmerz auf, als zwei düster dreinblickende, muskulöse Männer in langen Staubmänteln nach ihm griffen und ihn keineswegs sachte wie verlangt, sondern derb und rücksichtslos packten, vom strohbedeckten Boden hochhoben und durch das Türloch schoben, durch das sein Tėvas gekommen war, wenn er Essen brachte und mit ihm übte.
Jurgis stieß mit dem Kopf hart gegen die Wand aus Stein und verlor augenblicklich die Besinnung.
Aber nicht lange, dann kam er wieder zu sich, in einem absonderlichen Raum, dessen Boden aus Dielenbrettern gemacht war, nicht nur aus gestampfter Erde und etwas Streu darüber. Alles war so… sauber und…
Jurgis suchte nach den rechten Worten, während er feststellte, dass er auf etwas lag, das tausendmal weicher und wohlriechender war als die Lumpen, auf denen er es gewohnt war zu schlafen.
»Wie weiß er ist«, hörte er jemanden sagen. Es war nicht der freundliche ältere Herr, sondern einer seiner grobschlächtigen Gehilfen. »Ein Albino.«
»Unsinn. Er ist kein Albino. Dann hätte er rote Augen!«
Das war jetzt die Stimme seines unbekannten Wohltäters. »Die bleiche Haut hat er, weil ihm zeitlebens das Licht der Sonne vorenthalten wurde! Diese arme Seele war lebenslang in einem dunklen Verlies eingesperrt. Es wäre gnädiger gewesen, ihn gleich bei seiner Geburt zu ertränken…«
»Das kann man immer noch tun, Magister. Da draußen sind Leute, die sagen, sie wüssten, was das für ein Wesen ist. Das Weib des alten Kolitz habe vor vielen Jahren ein Kind zur Welt gebracht, das ihnen Orguudoo ins Nest legte. Eine Monstrosität. Offenbar gab Kolitz vor, die Missgeburt verbrannt zu haben. Aber jetzt, nachdem er selbst hin ist, kommt die Wahrheit ans Licht!«
»Du warst schon immer ein grober Klotz, Primos. Hüte dein Schandmaul. Ich will von alledem nichts mehr hören. Das Wesen , wie du es nennst, hat mehr erlitten, als dein Erbsenhirn sich ausmalen kann. Es steht fortan unter meinem persönlichen Schutz. Ich spaße nicht, du kennst mich. Hüte dich, ihn schlecht zu behandeln! Und jetzt bereite die Kutsche vor. Er kann den weiten Weg nicht sitzen, er muss liegen. In spätestens einer Stunde will ich abfahren!«
Der Grobian scharrte mit den Füßen, nickte aber und trollte sich. Jurgis sah ihm nach, halb eingesunken in dem Kissen unter seinem Kopf.
»Ah, du siehst mich so an, mein Kind. All dies muss dich erschrecken.«
»W-wer seid Ihr?«
»Alvarus Grauberg, mein Kind. Magister Alvarus Grauberg, Gelehrter der Wissenschaften. Du wirst noch nicht von mir gehört haben, darum nur so viel: Du bist in guter Obhut. Besseres hätte dir nicht widerfahren können. Ich bringe dich in mein Haus. Meine Bediensteten werden sich um dich kümmern. Du wirst keine Not mehr leiden müssen.«
»Wo… mein Tėvas?«
»Dein Vater? Paavel Kolitz?« Die Stimme des sauber und höchst aufwändig gekleideten Herrn schwankte leicht. Jurgis achtete auf solche Nuancen, tat dies aber ausschließlich aus dem Bauch heraus.
»Mein Tėvas!«, bekräftigte er.
»Nun, mein Kind. Er ist bedauerlicherweise verstorben. Das Herz, so sagte man mir.«
Jurgis war verwirrt. Aber da ihn ohnehin alles verwirrte, was er seit Verlassen seiner fensterlosen Kellerkammer gesehen und gehört hatte, war dies nur eine Randnotiz, die ihn nicht mehr verschreckte als alles andere. Eine Welt brach für ihn zusammen - aber zugleich öffnete sich ihm eine unerhörte andere. Er hatte sich noch nie so lebendig gefühlt!
»Wir können unterwegs sprechen«, bot Grauberg ihm an. »Ich will mich hier keine Stunde länger als nötig aufhalten. Die Leute in diesem Viertel wollten mir schon den Zutritt zu diesem Haus verwehren und benahmen sich höchst suspekt, obwohl ich Korrespondenz mit deinem
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