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294 - Der Keller

294 - Der Keller

Titel: 294 - Der Keller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Weinland
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Vater führte, über viele Monate hin -« Er verstummte und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Verzeih, wie solltest du das wissen? Offiziell warst du ja tot. Auch mir gegenüber machte er nur Andeutungen, die aber durch die Gerüchte, die mich erreichten, an Substanz gewannen. Trotzdem: Hätte ich deines Vaters Aufzeichnungen nicht gefunden, niemand hätte dich zu deinen Lebzeiten gefunden. Welch unfassliches Glück!«
    Alvarus Grauberg hatte Tränen der Rührung in den Augen.
    Jurgis lächelte glückselig zu ihm empor. Bald darauf verfrachtete man ihn in die hergerichtete Kutsche, deren Ausfahrt aus Alytus von Schaulustigen begleitet wurde. Jurgis lag wie zu seinen Kleinkindzeiten eingewickelt in warme Decken zu Alvarus Graubergs Rechten, während die Kutsche gen Vilnius rollte, wo der Magister wohnte. Jurgis fasste mehr und mehr Zutrauen zu dem freundlichen, wenn auch absonderlichen Herrn. Aber absonderlich, das wurde ihm allmählich bewusst, war er ja selbst.
    Die Kutsche holperte über staubige Straßen. Jurgis lehnte mit dem Kopf gegen den Verschlag und wurde heftig durchgeschüttelt. Doch das machte ihm nichts aus. Die Fahrt war wie ein wundervoller Traum für ihn, und er konnte noch gar nicht richtig verstehen, dass das alles Wirklichkeit sein sollte.
    »Hab keine Angst«, sagte der Magister. »Du zitterst am ganzen Körper. Ich mache mir Sorgen.«
    Jurgis blickte an sich herab, auf seine schmalen Hände. Man hatte ihm die überlangen Fingernägel gestutzt und gesäubert, und obwohl ihn der vorherige Zustand nie gestört hatte - Jurgis war Schmutz gewohnt -, fand er sie jetzt hübsch anzusehen.
    Die vielen Decken jedoch, in die man ihn gewickelt hatte, setzten ihm zu. In seiner Welt war es nie sehr warm, aber auch nie richtig kalt gewesen. Hier in der Kutsche war es anders. Die Hitze, die sich darin staute, machte Jurgis mit zunehmender Fahrtdauer zu schaffen. Und zunächst reagierte er ganz erschrocken auf das Wasser, das aus seiner Haut herauslief - bis der Magister ihn beruhigte und behauptete, es sei ganz normal, wenn man »schwitze«.
    »Hab noch nie geschwitzt«, antwortete. Jurgis.
    Der Magister sah ihn für einen Moment an, als wäre Jurgis ein seltsames Tier, dann murmelte er: »Armes Ding. Was hat er dir nur angetan… Aber wir sind bald da. Dann schläfst du dich gesund! Danach sehen wir weiter.«
    ***
    Erst als Jurgis erwachte, wurde ihm bewusst, dass er während der Fahrt durch die unwirkliche Freiheit eingeschlafen sein musste. So tief und fest hatte er geschlummert, dass er nicht einmal die Ankunft in Vilnius mitbekommen hatte - oder wie man ihn aus des Magisters Kutsche in dessen Haus hinein verfrachtet hatte. Ein dämmriges Dunkel empfing ihn, wie er es von den Zeiten seiner Gefangenschaft nicht kannte. Er lag unter flauschigen Decken und war ganz allein. Aber das war er gewohnt, und so versetzte es ihn nicht in Furcht, wiewohl die Neugier ohnehin alles andere überstrahlte.
    Er lauschte in sich und fühlte sich kräftiger als zuletzt; die bleierne Schwere und Mattigkeit waren von ihm abgefallen. Er schlug die Decken zurück und stellte seine nackten Füße auf den glatten Dielenboden des Zimmers - auch der unterschied sich wohltuend von den rohen Brettern im Heim seines Tėvas.
    Jurgis schwankte zum Fenster. Es waren nur wenige Schritte, aber seine Beine waren nicht oft gefordert worden in den Jahren des Kellerlebens und gaben immer wieder nach. Jurgis gab weinerliche Laute von sich, aber er war erst mit sich zufrieden, als er vor dem Fenster anlangte und sich an der leicht hervorspringenden Fensterbank festhalten konnte.
    In gebückter Haltung atmete er erst einmal tief durch. Dabei lauschte er, ob er Schritte oder Stimmen hörte. Die suchte er allenthalben, seit er erfahren hatte, dass es so viele Menschen gab. Doch es blieb ruhig im Haus, und während der kurzen Zeit, die er nun wach war, schien sich die Helligkeit bereits verändert zu haben, in der Stube und draußen.
    Und dann, völlig unvorbereitet, sah Jurgis seinen ersten Sonnenaufgang! Er blickte ins Freie auf ein parkähnliches, sanft ansteigendes Geläuf, das in einiger Entfernung bei einer hohen Steineinfriedung endete. Und dort über den Mauerkranz schob sich in diesem Moment rotgolden die Sonnenscheibe und färbte den ganzen umliegenden Himmel ein.
    Tief in sich drin hörte Jurgis Gesänge, die nicht real waren und über deren Ursprung er nur rätseln konnte. Sie klangen weihevoll, als wollten sie den

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