294 - Der Keller
Hünen so fest gegen die Kniescheibe, dass dieser ihn losließ und auf einem Bein umhersprang, während sich Paavel zwischen Horowitz und sein Weib schob. »Verschwindet, oder Ihr werdet es bereuen!«, fauchte er dem mächtigsten Mann von Alytus ins feiste Gesicht.
Horowitz wirkte beeindruckt.
Allerdings, und das erkannte Paavel viel zu spät, weniger von ihm als von dem, was er mit der morbiden Faszination eines Mannes betrachtete, den kaum noch etwas auf Erden überraschen konnte.
»Es ist, wie die Vettel sagte«, raunzte er. »Das Kind ist eine Missgeburt. Wir sollten es im Fluss ersäufen, bevor es das Haus und die ganze Stadt ins Elend stößt!«
Paavel musste hart schlucken, als das Wort »Missgeburt« fiel. Vor allem, weil er es selbst gesehen hatte, eine Sekunde bevor der Tross ins Haus gestürmt war.
Das Kind war wahrhaftig… anders.
Paavel hatte noch nie von einem Menschen gehört, der so beschaffen war wie dieser Säugling. Und trotzdem war es sein Kind !
»Lasst die Finger von ihm!«, rief er aus. »Wer mein Kind anfasst, den bringe ich um!«
»Überleg dir gut, wen du dir zum Feind machst, Kerl«, konterte Horowitz kühl. »Sonst findest du in dieser Stadt keinen Frieden mehr!«
Paavel wies mutig zur Tür. »Hinaus! Raus mit euch allen! Mein Kind ist keine Missgeburt! Vielleicht ist es… krank. Es wird sich alles fügen. Raus jetzt! Und nehmt die Hexe gleich mit!«
»Hexe?«, keifte die Sieche Olga außer sich. »Du beleidigst mich und schützt gleichzeitig eine Teufelsbrut?« Sie kam mit verzerrtem Gesicht auf Paavel zu und spuckte ihn an. »Du schuldest mir noch meinen Lohn! Her damit, sonst besuche ich dich nachts im Schlaf und schneide dir den Wanst auf!«
Sie steigerte sich immer mehr in ihren bösen Wahn, bis Horowitz seinen Männern ein Zeichen gab. »Wir gehen«, entschied er. »Alles Weitere wird später geregelt!«
Einer der Leibwächter klemmte sich die Amme wie ein jähzorniges kleines Kind unter den Arm und nahm sie im Fortgehen mit hinaus.
Die Stille, die folgte, war sinnesbetäubend.
Als die Nachgeburt kam, wusste Paavel nicht, wie er sich verhalten sollte. Aljescha instruierte ihn mit dem spärlichen Wissen, das sie sich aus Gesprächen mit anderen Müttern angeeignet hatte. Danach war sie so erschöpft, dass sie den Eindruck erweckte, jeden Moment einzuschlafen. »Vergrabe die Nachgeburt im Garten hinter dem Haus«, flüsterte sie ihrem Mann zu. »Und darüber pflanze ein Bäumchen, vergiss es nicht. So will es der Brauch…«
Paavel wollte etwas erwidern. Nach wie vor brodelte die Wut in ihm - die Wut auf die Amme, die ihre Arbeit nicht zu Ende gebracht hatte, und die Wut auf Horowitz, der sich dem Aberglauben der alten Vettel angeschlossen hatte. Doch bevor er das Wort an Aljescha richten konnte, sah er, dass sie die Augen geschlossen hatte und gleichmäßig atmete. Ihr gemeinsames Kind lag immer noch an ihrer Brust, ganz friedlich. Das Geschrei und die Unruhe schienen es nicht nachhaltig verängstigt zu haben.
Paavel liebte dieses kleine Wesen, seit er es zum ersten Mal gesehen hatte. Und daran würde auch der Makel nichts ändern.
Wie sollte er auch ahnen, wie nachtragend Horowitz war - und dass die Sieche Olga auch in Zukunft nicht müde wurde, Gift und Galle zu speien und die anderen Bewohner von Alytus gegen die Eltern der »teuflischen Obszönität« aufzuwiegeln…
***
Gegenwart, Mitte April 2527
Was hinter ihnen lag, hatte sein Weltbild nachhaltig verändert. Immer wieder musste Matthew Drax daran denken, für wie aufgeklärt und »wissend« er sich als Kampfpilot bei der U.S. Air Force gehalten hatte - so aufgeklärt eben wie jeder gebildete Amerikaner des frühen 21. Jahrhunderts. Auf den Gedanken, dass sich schon damals die wahre Weltmacht im Himalaja verborgen halten könnte, darauf wäre er im Traum nicht gekommen. Agartha war damals nicht mehr als eine Legende gewesen. Genauso wie niemand von den Hydriten gewusst hatte, die auf dem Grund der Meere perfekte Rückzugsgebiete gefunden hatten. Rückblickend kam ihm sein erstes Leben(nicht zu vergessen das Leben als Hydree im Geist von Gilam'esh, siehe MADDRAX Bd. 107-169) - o ja, Xij, auch ich kann auf drei Leben zurückblicken! - deshalb fast wie ein Fake vor. Weniger, was seine ganz privaten Momente anging, aber dafür umso mehr alles, woran er einst politisch, gesellschaftlich und kulturell geglaubt hatte.
Er fühlte sich in seinen Grundwerten erschüttert - doch gab es auch noch einen anderen
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